Die Nacht ist ruhig und auch morgens ist die Dusche wieder warm. In der Küche sammeln wir uns, haben Vergnügen daran, die verschiedenen Herdplatten mit den Touchschaltern je nach Bedarf an- und abzuschalten - dreisprachig. Heute werde ich am Cruz de Ferro vorbeikommen, wie werde ich heute empfinden? Last habe ich nicht abzuwerfen, jedoch einen Stein, den ich in Portugal aufgesammelt habe und der seitdem im Rucksack eigentlich auf zu Hause wartet, denn zum Zeitpunkt als ich ihn aufhob und mitnahm, wusste ich noch nicht, dass ich auf dieser Pilgerfahrt noch am Cruz vorbeikommen werde. Gestern habe ich mir gesagt: Hier ist er besser aufgehoben, als dass er zu Hause meine Erinnerungskiste füllt. Also doch: Last abwerfen.
Ich mache erst mal eine Stadtrunde bei dem Versuch, die Stadt in Richtung Rabanal zu verlassen. Mittlerweile bin ich perfekt im Anhalten von Autos - es ist Sonntagmorgen, wenig Leute auf der Straße. Auf dem Weg nach Molinaseca treffe ich ein paar Pilger - ein Paar sitzt in einer Bushaltestelle und kocht Tee, ein paar Worte, Erkundigung nach dem Weg. Bergauf erwische ich die Piste für Radfahrer, in El Acebo dann wieder das Denkmal für Radfahrer und eine offene Bar. Die halbe Tagesetappe ist fast geschafft. Natürlich denke ich über das Thema „Last" nach. Ich komme zum Schluss, dass es schöne Lasten gibt und eben die anderen, die ich loswerden möchte, loswerden werde! Die Fünf-Jahres-Kisten mit Dingen, die zu schade zum Wegwerfen sind, die ich aber seit mehr als fünf Jahren nicht brauchte, in meinem Keller und meiner Garage fallen mir ein - doch ich bin zufrieden mit mir: Ich war in den letzten Monaten sehr fleißig und habe mich schon von viel Ballast befreit. Klar, die Last meines Rucksacks geht mir auch durch den Kopf, er will ja gerade auch noch bergauf getragen werden. Doch was kann ich entbehren - was möchte ich entbehren? Mir fallen nur ein paar Wäscheklammern ein. Die in Porto gekaufte Packung war eindeutig zu groß und bisher habe ich mich nur von ein paar Klammern trennen können. Ansonsten ist mir jedes Stück so wichtig, dass ich es als schöne Last einstufe und tapfer den Rucksack weitertrage.
Gerade will ich in der Bar aufbrechen, da kommt ein anderer Pilger zur Tür herein. Nach drei Sätzen geht es auf Deutsch weiter. Auch bei ihm ist „Last" ein Thema, er hat schon viele Sachen auf dem Weg zurückgelassen, nur seinen roten Fan-Schal nicht. Er wollte ihn nach Hause schicken, doch die Post war zu. Da er auch seine Jacke als zu schwer eingestuft hatte, ist er glücklich, den Schal behalten zu haben.Hier oben liegt ja noch Schnee. Wir verabschieden uns und jeder hat wieder ein paar heimische Urlaute gehört und etwas vom Weg erfahren, der vor ihm liegt.
Meine Strecke zieht sich, aber endlich taucht das Cruz de Ferro vor mir auf, nett im Schnee eingerahmt. Ein Auto hält, ein Ehepaar steigt aus, betrachtet die Steine und Aufschriften. Ich lege still meinen Stein ab, er war keine Last auf den ca. 400 Kilometern ab Portugal, es gibt keine Last, die er aufgenommen hat. Das Thema „Last" ist fertig: Die mir lieben und wichtigen Lasten trage ich gerne, die anderen schicke ich nach und nach weg. Schon heute Vormittag habe ich an das Gespräch mit Irmtraut im Sommer über das Steinablegen nachgedacht, es ist mir wie gestern vorgekommen.
An der mir von den Argentiniern empfohlenen Herberge laufe ich vorbei, die hat mich im Sommer schon nicht angesprochen. Gut, dass jeder Mensch anders ist. Auch die von den Koreanern empfohlene Herberge ist nach einem Blick nicht für meine Ohren geschaffen, man hatte mich ja vor der Musik gewarnt. Ich lande in Rabanal del Camino, gehe in die Kirche, frage nach einer offenen Herberge. Als Antwort habe ich verstanden, es sei nicht viel offen, ich solle mich mal umschauen. Also tue ich das. Dann läuft mir eine Frau hinterher. Sie bringt mich persönlich zu der einzigen offenen Herberge. Hier bekomme ich auch Essen, denn der Supermarkt ist wegen Urlaub geschlossen und alle Restaurants rüsten sich auf das Sommergeschäft. Dann geht's zur Messe. Zwei Mönche zelebrieren eine Messe mit gregorianischen Gesängen. Unsere Hospitalera und vier Peregrinos sind die Gemeinde. Etwas ganz anderes, etwas ganz Schönes. Ein prima Abschluss für meine Pilgerfahrt.
Auf das Abendessen bin ich gespannt, die Hospitalera kocht. Sie hat mir übrigens meinen Rucksack von der Anmeldung bis zu meinem Bett getragen. Einen besseren Service gibt es auch in einem Sieben-Sterne-Hotel nicht. Außer mir sind noch zwei Spanier und ein Italiener hier. Ich werde sie mit Englisch ärgern. Ich beschließe, meine Broschüre der spanischen Post mit den Karten, die ich in einer Herberge gefunden habe, hier zu lassen. Ich habe zum Abschied ein Foto gemacht. Last gar nicht erst entstehen lassen, geht mir durch den Kopf, denn zu Hause würden sie in die Kartenschublade wandern, die immer, wenn sie platzt, mit viel Energie entrümpelt werden will. Hier findet sie vielleicht ein Pilger, der nichts Besseres hat, so wie ich vor einer Woche.
Ich lese im Buch „Peace": „...make friends with the trees again." Michelle hat mir das Buch geschickt, sie sagte zu mir an einem meiner ersten Pilgertage im Sommer: „Fotografiere nicht nur Bäume, sondern mach'auch „I'm-here- pictures." Und so gibt es von heute auch ein Bild von mir am Cruz de Ferro.
Das Abendessen nach der Messe besteht aus Makkaroni. Ich sitze zusammen mit den drei anderen Pilgern. Sie haben sich auf dem Weg kennen gelernt und haben genug Gesprächsthemen auf Spanisch, doch ab und an werde ich ins Gespräch einbezogen. Ein Spanier sagt sehr deutlich: „Wenn man in ein Land kommt, dann sollte man die Landessprache können." Ich diskutiere nicht, gebe ihm im Prinzip recht. In der Praxis ist das jedoch kaum zu realisieren.