Heute Morgen geht's erst um 8:30 Uhr aus den Federn, die Mitpilger sind auch Langschläfer. Beim Frühstück kaum ein Wort – es ist noch zu früh. Die anderen machen heute einen Ruhetag in León. Das Packen ist heute keine Routine, denn für den Stadtrundgang und die Bahnfahrt ist die Reihenfolge anders. Draußen vor der Herberge begrüßt mich ein strahlender, kalter Januarmorgen. Kein Wölkchen am Himmel, die Sonne tut ihr Bestes und strahlt durch die Häuserzeilen. Ich spaziere zur Kathedrale, gegenüber liegt das nette „Café Europa". Schöne Musik, kein TV, eine Tasse Kaffee, um wach zu werden. Mal sehen, ob es heute ein Zeitfenster gibt, in dem die Kathedrale für mich geöffnet hat.
Das Zeitfenster passt: Ich bin beeindruckt. Ich schlendere an den vielen Seitenaltären vorbei, die bunten Fenster geben der Kathedrale ein besonderes Licht. Dann mache ich mich auf zum Museum. Hier gibt es in zwei Stunden einen Schnelldurchgang von der Prähistorie bis heute.
Bei meinem Streifzug durch die Stadt finde ich eine deutsche Bäckerei - hier muss ich eine Pause machen. Bis Paris werden es wohl Züge ohne Speisewagen sein, also blicke ich mich langsam nach einem Supermarkt um, damit das leibliche Wohl auf der Rückfahrt so gut gesichert ist wie unterwegs beim Pilgern. Das Leben auf der Pilgerfahrt ist doch einfacher als das vom Fahrplan der Bahn bestimmte.
Nun habe ich eingekauft, als ob ich in einen bis Peking fahrenden Zug ohne Speisewagen steigen würde. Es ist kurz nach 13:00 Uhr, ich habe also noch zwei Stunden Zeit, den Bahnhof zu finden, und darf solange zusätzlich zum Rucksack die Plastiktüten mit dem Einkauf tragen.
Im Museum hat mir besonders das Video über den Camino gefallen, denn es wurde nicht nur der Camino de Santiago gezeigt, sondern Pilgerwege weltweit. Und so werde ich wieder an das Vorhaben „Rom" erinnert und freue mich schon darauf. Auch wenn ein Stadtbesuch auf dem Pilgerweg für mich immer ein schwieriges Thema war, so ist doch dieser Tag in León zum Ankommen im normalen Leben gut für mich. Ich habe so viele schöne Stellen in der Stadt gefunden, es lohnt sich wiederzukommen, ob auf Pilgerfahrt oder einfach nur so.
Den Weg zum Bahnhof habe ich eingeübt, Erinnerungen an den Sommer, Erinnerungen an gestern aufgefrischt. Ich erwarte besser in einer Bar die Abfahrt des Zuges als am öden Bahnhof. Ich bekomme einen Schreck, als ich auf eine Uhr in der Bar schaue, beruhige mich aber, denn alle Uhren hier stehen still.
Auf dem Bahnhof Schuhwechsel, mit viel Übung passen die Pilgerschuhe in den Rucksack und die Turnschuhe sind für die Bahnfahrt angemessener. Gestern der letzte Pilgerschritt, heute noch einmal durch die Stadt im Pilgeroutfit. Langsames Ende meiner Pilgerfahrt.
Diese Pilgerfahrt hat bei mir den Wunsch geweckt, Sprachen zu lernen. Damit hatte ich bestimmt nicht gerechnet. Es fing damals mit Andrea kurz hinter Tui an. Jetzt in León habe ich mir jede Reklametafel laut vorgelesen. Wie werde ich es fertig bekommen, meinen gordischen Sprachknoten zu lösen? Ich werde mich überraschen lassen. Genug Sprachen gibt es ja zur Auswahl. Ich erinnere mich, beim letzten Besuch in León an einer als Londoner Underground Station aufgemachten Bar mit dem treffenden Namen „Babylon" vorbeigekommen zu sein. Diese Geschichte aus der Bibel: Für mich schließt sie sich hier in León auf dem Bahnhof beim Warten auf den Zug, der mich in ein anderes Land zu einer anderen Sprache bringt. Das Nichtverstehen eines anderen Menschen wegen der Sprachbarriere weicht bei mir langsam trotz meiner nur wenigen Brocken in anderen Sprachen.
Auf dem Bahnhof angekommen darf ich mehrere Leute fragen, denn ich bekomme mit, dass mit der gleichen Zugnummer zwei Ziele angegeben sind. Es dauert, bis ich eine Antwort bekomme: Der Zug wird also irgendwo geteilt und ich sollte den Teil erwischen, der mich nach Hendaye bringt. Zuerst die Auskunft von einer Dame an der Information, dass der Zug Verspätung hat, dann von zwei Herren der Bahn-Security der Hinweis auf Coche 2, und als sie auf ihrem Kontrollgang durch den fahrenden Zug mich sitzen sehen, ein Lächeln und den Daumen hoch - beides ist international. Für 34,30 Euro kann ich jetzt fünf Stunden Spanien per Bahn genießen. Zuerst die Meseta, denn der Zug geht über Burgos. Er ist relativ leer und auch in der Touristenklasse läuft ein Film, doch ich schaue lieber aus dem Fenster. Als der Schaffner kommt, erfahre ich, dass ich im falschen Wagen sitze, also alles wieder schultern und durch den Zug - jetzt in einen vollen Waggon, Sitzrichtung rückwärts. Sahagún ist erreicht. Vor mir eine Nonne, gegenüber zwei Pilger aus Frankreich. Um 16:43 Uhr sind wir in Palencie. Ich habe wieder einen Fensterplatz und kann in die Sonne schauen, die heute schon den ganzen Tag strahlt. Nach nochmaligem Umsetzen schaue ich wieder in Fahrtrichtung und habe eine Vierersitzgruppe für mich. Die Wolken sind schöner, als man sie malen könnte, auf vielen Anhöhen Windräder. Um 17:33 Uhr sind wir in Burgos Rosa de Lima. Der Zug leert sich. Schöne Erinnerungen an die im Sommer durchpilgerte Meseta sind vorbeigeflogen.
Die Sonne malt die Wolken bei ihrem heutige Untergang in herrlichen Rottönen. Um 18:32 Uhr ein Halt, hier wird der Zug getrennt. Mirada habe ich verstanden, um 19:00 Uhr Stopp in Vitoria, außer vielen erleuchteten Straßenlaternen sehe ich nichts. Um 19:21 Uhr ein weiterer Stopp, ich habe weder die Ansage verstanden, noch ein Bahnhofsschild gesehen. Das JETZT weiß ich, beim HIER vertraue ich auf die Dame am Fahrkartenschalter in León, obwohl ich bis jetzt nicht verstehe, warum sie mir nicht eine Fahrkarte bis nach Hause verkaufen und die Verbindung bis dorthin heraussuchen konnte. Es wird einen Grund dafür geben, vielleicht erhalte ich irgendwann einmal eine nachvollziehbare Erklärung. Ein weiterer Stopp um 19:44 Uhr - auch jetzt bleibt das HIER ein Geheimnis für mich. Ich lese im Buch „Peace" und trage Frieden in mir. 20:26 Uhr ein weiterer Stopp. „Wir haben etwa eine halbe Stunde Verspätung", erklärt mir Claude, ein französischer Pilger. „Das ist gut", fügt er hinzu, „Du brauchst nicht so lange auf Deinen Anschlusszug zu warten." Katharina ist mit meiner Ortsangabe „kurz vor Frankreich" und dem Verkehrsmittel Zug sehr zufrieden. Wir verabreden, wo ich meinen Wohnungsschlüssel finden kann. 20:45 Uhr, ein weiterer Stopp. Ich verstehe Irún. Das sieht nach spanischem Grenzbahnhof aus. Langsam ankommen wollte ich, aber so lange stillzusitzen nach einer Zeit, die von Bewegung geprägt war, fällt schwer. Es sind ja nur noch zwei Länder zu durchqueren.
Ich bin in Frankreich, die Dame am Fahrkartenschalter findet Köln im Computer und verkauft mir neun Stunden Bahnreise durch die Nacht für 76,60 Euro. Aus irgendeinem Grunde bin ich geizig und spare die 30 Euro für den Liegewagen. Dann noch ein Ticket von Paris Nord nach Köln für 77 Euro in dreieinviertel Stunden. Auf dem Bahnsteig komme ich mit Alex ins Gespräch, wir hatten uns in der Bahn kurz gesehen. Er ist von Le Puy im November gestartet und ist knapp bei Kasse, sodass es für die Bahnfahrt nicht reicht. Er will bahntrampen. Ich biete ihm an, seine Fahrkarte auszulegen, er kann es mir ja später überweisen. Er will darüber nachdenken, dann ist aber der Schalter geschlossen. Er regelt es dann anders, er kann erst mal mitfahren und später irgendwann bezahlen. Wir unterhalten uns über Camino-Erlebnisse, tauschen E-Mail-Adressen und begeben uns zur Ruhe. Nun weiß ich: Deshalb wollte ich keinen Liegewagen.