Ein anderer Pilger hat auch hier im Feuerwehrhaus übernachtet. Er trödelt, bis auch ich nicht mehr weiter trödeln kann, und will den Morgenkaffee mit mir nehmen. Mein Spanisch ist zu schlecht und bei jedem englischen Wort dreimal nachzufragen, um zu verstehen, ist vor dem Kaffee auch nicht mein Ding. Wir verabschieden uns freundlich, ich verstehe, dass er auf dem Weg nach Fátima ist und schon verschiedene Caminos gegangen ist. Sein Rucksack ist irgendwie unförmig voll, das Tütensystem außen in einer mir nicht verständlichen Weise geordnet. Ich habe dafür die Tüte mit den Teelichtern und Streichhölzern in meinem Rucksack gefunden. An der Kathedrale werde ich dann meinen Rucksack das erste Mal erleichtern und das erste Licht, das ich ja Kirstin versprochen habe, anzünden und dort lassen.
Ich traue mich nicht, es in der Kathedrale anzuzünden, draußen in einer Mauernische geht es dann drei Streichhölzer später an. In der Kathedrale lasse ich es mir nicht nehmen, das „Peace"-Buch von Michelle in die Hand zu nehmen, deshalb trage ich es ja mit mir.
Der Weg aus Porto hinaus ist in meinem Führer gut beschrieben und auch gut gekennzeichnet. Es gibt so viel zu sehen, dass ich ein paarmal eine Markierung verpasse. Als ich mich dann auf den Weg zurück mache, denke ich an Elke: Nicht zurückblicken. Nun, ich gehe sogar zurück und empfinde es als Bereicherung, was ich zwischendurch abseits vom vorgeschriebenen Weg gesehen habe: einen Hund, der mich nicht anbellt, eine Katze im Windschatten eines Autos, jeden Sonnenstrahl nutzend. Die Dichte der Bars ist groß, sodass ich frei entscheiden kann, wann mir nach einer Pause für den Solo grande zumute ist. In der Bar ist dann der Bewegungsmelder für die „weiße Ware" der Meinung, ich sollte den Weg auch im Dunkeln finden. Das Tasten nach dem Riegel kostet mich einen Fingernagel. In der Bar stelle ich fest, dass die Ordnung im Rucksack schon am ersten Pilgertag erstaunlich gut ist, die Nagelschere ist schnell gefunden und das Thema dezent erledigt.
Ein paar Ecken weiter links liegt eine wunderschöne, mit blauen Kacheln geflieste Kirche: Igreja do Carvalhido. Leider gibt's nur Diodenkerzen. Für die zweite Auflage der Nummer mit dem Teelicht habe ich nicht die Nerven, es sind zu viele Leute da. Dann geht es immer geradeaus. Mir kommt ein Pilger entgegen. Ein dezenter Hinweis auf seinen Hunger und seine leere Geldbörse lassen mich zur guten Tat des Tages schreiten. Ein paar Scheine wechseln den Besitzer und meine Ersparnis beim Hotel letzte Nacht ist dahin. Da war doch was mit dem Teilen im großen Buch der Christenheit und ich bin ja auf Pilgerfahrt. Das weitere Gespräch ist anstrengend, denn ich kann kein Französisch und er nur wenige englische Brocken. Wir verabschieden uns herzlich, ich möchte weiter. Ich entscheide mich, das gelbe Reiseführerbüchlein einzustecken und einfach nach den Wegweisern zu laufen, eine Sache weniger, der ich Aufmerksamkeit schenken muss. Das Wetter ist einfach prima, über die Mittagszeit angenehm warm.
Ich denke nach und der neulich angefangene Gedanke „Und sie ist doch eine Scheibe ..." kommt zurück. Als ich über eine Autobahnbrücke schlendere, verstehe ich den Gedanken. „Hier und Jetzt" sind die zwei Dimensionen, auf die ich auf meinem Camino die komplizierte mehrdimensionale Welt reduzieren möchte. Habe ich es nicht im Mathematikstudium gelernt? „Der Raum ist so, wie ich ihn mir definiere." Lass meinen Raum zweidimensional sein, lass ihn eine Scheibe sein „hier und jetzt". Als ich so weit bin, fängt mein 25 Kilometer großer Zeh an, sich zu melden. Das kann nicht sein, denn der Ort, dessen Namen ich mir eingeprägt habe, war noch nicht auf einem Ortsschild zu lesen. Beim nächsten Ortsschild befrage ich meinen gelben Führer, quäle mich durch den Text und habe einen ersten flüchtigen Gedanken, wie dieser Führer anzuwenden ist. Mein Zeh hat Recht, ich habe den vorgeschlagenen Übernachtungsort schon längst hinter mir gelassen. Bleibt das „Jetzt" zu klären. Ein Blick auf mein Handy sagt mir eine Zeit, die Richtung der Zeitverschiebung habe ich vergessen. Das „Jetzt" hat also ein Zeitfenster von zwei Stunden. Eine Farmacia im nächsten Ort klärt das Jetzt, das Hier und die Temperatur - ich habe wieder eine Dimension zu viel. Im gelben Büchlein lese ich von einer Notherberge - besser nach vorn als zurück. Ich schlendere also weiter an der Straße entlang. Ein Auto hält, das Beifahrerfenster geht herunter, ich höre einen Schwall Portugiesisch. Auf meinen verzweifelten Blick ein Griff in die Bluse und der Anhänger mit der Muschel wird hervorgezaubert, das Auto etwas mitteleuropäischer geparkt. Die Dame ist den Camino Francés im letzten Sommer gegangen, so wie ich. Bis zur nächsten Bar zurück sind es nur ein paar hundert Meter und das Zusammentreffen muss mit einem Kaffee begossen werden. Sie lässt ihren Camino wieder aufleben, springt zurück zum Auto, holt eine Mappe und zaubert die Mail einer Österreicherin mit Foto der beiden hervor. An die Kirche erinnere ich mich, kann genau den Weg zur Herberge und Bar beschreiben, der Ortsname ...? San Juan de Ortega? Jürgen war noch einmal zurück zur Kirche gegangen, als ich dort ausgiebig Pause machte. Ja, der erste Camino hatte so viele schöne Erlebnisse und auch in diesen zwei Tagen ist schon so viel Schönes geschehen. Das Gespräch mit der Pilgerin wird etwas einseitig: neunzig Prozent Portugiesisch, gewürzt mit zehn Prozent Englisch von meiner Seite. Wir trennen uns nach einer Umarmung, nachdem der Wirt mich eindringlich vor dem Notquartier gewarnt hat.
Im Dämmerlicht geht es weiter die Straße entlang, die Horrorstrecke unterhalb des Camino Duro ist die Kö gegen diese Nationalstraße. Es muss ein übergeordnetes Gesetz sein, dass Lastwagen immer auf meiner Höhe überholt werden müssen. Ich lenke mich ab, denke an Manni, der die Nationalität jedes Lkws aus dem Stand heraus wüsste. Die Pilgerin eben hat meine Stöcke nur verächtlich gemustert. Ich müsste mir einen echten Pilgerstab zulegen. Die Geschichte, warum ich die überhaupt mithabe, ist zu kompliziert, um sie ihr zu erklären. Ich beschließe, bei der nächsten Wasserstelle die beiden Wegbegleiter „Lijgien" und „Manni" zu taufen, und bin wieder eine halbe Stunde beschäftigt, die Zuordnung zu treffen: rechts Manni, links Lijgien.
Der Ortsname Vilarinho erscheint, mein zweites Tagesziel, rechts der Wegweiser zur Herberge und Farmacia, bei der man sich den Schlüssel abholen kann. Ich bekomme Schlüssel, Stempel und eine Wegbeschreibung. Nachdem ich alle Schlösser der Straße durchprobiert habe und in einem Kindergarten nachgefragt habe, zeigt mir eine Dame die Tür. Sicherheitshalber ist da kein Schild dran. Die Tür hatte ich schon mal versucht, aber der Schlüssel schließt so sperrig, dass man sich schon sehr sicher sein muss, an der richtigen Tür zu sein. Hinter einem Spielplatz finde ich ein Gebäude, auch hier ein etwas sperriges Schloss, dann der Vierbettraum mit Kombiküche, dafür ohne Heizung. Der dritte Schlüssel, an allen Türen ausprobiert, eröffnet mir Bad und Dusche, die mit dem Sportplatz geteilt werden. Im Herbergsbuch finde ich den letzten Eintrag vom 30.12. und kann auf dem Deckblatt das Jahr 2010 ergänzen.
Zurück im Ort genieße ich als - noch - einziger Gast ein gutes Menü. Bin ich eigentlich auf Abenteuerurlaub oder Pilgerfahrt? Ich entscheide: auf Pilgerfahrt. Per SMS kommen heute Abend gute Wünsche von Trudy und Ulla. Woher haben die beiden gewusst, dass ich eine Aufmunterung gut gebrauchen kann?