Um kurz nach 6:00 Uhr geht es im Nachbarraum los. Die schönen alten Dielen knarren nur einmal, aber das durchgehend. Ich klammere mich noch an die Matratze, sehe dann auf meinem Gang zur Dusche die beiden jungen Frauen mit Pudelmütze im Salon frühstücken. Es ist unangenehm kalt, aber die Dusche ist schön warm. Langsam packe ich meine Sachen zusammen, die beiden klopfen an mein Zimmer und verabschieden sich. Im CD-Player im Salon finde ich gregorianische Musik, also wird Kaffee gekocht und gefrühstückt mit Pudelmütze und Musik. Bald habe ich alles eingesammelt, das ist inzwischen Routine. Das Handtuch auf der Leine ist seltsam steif - ah - gefroren. Im Laden gebe ich die Schlüssel ab und schlendere mit den Stöcken in der Hand los. Stock Manni will sich nicht feststellen lassen. Die gestrige Taufe und der heutige Frost – ich diagnostiziere: Es ist Eis im Mechanismus. Ich lasse ihm eine Stunde Zeit, warm zu werden, und dann funktioniert er wieder.
Der Weg macht klar, dass es hier häufig regnet und meine Diagnose „Eis" auch stimmte. Ich stelle fest, dass das Universum meine Wetterbestellung verstanden hat. Bis jetzt fiel noch kein Tropfen vom Himmel - oder liegt es an meinem Regenverhinderungsschirm oder ist es einfach Glück? Herauszufinden, was ein Dandelion ist, war noch eine offene Aufgabe von gestern: Ist das nicht die Pusteblume?
Wie gestern sehe ich viele Blumen am Wegesrand - heute nehme ich auch ihr Lächeln wahr. Dem Buch „Peace" sei dank - darin habe ich das gelesen.
Der Weg führt nach rechts, dreißig Meter weiter links soll eine Bar sein. Meine Entscheidung ist klar, den Umweg gönne ich mir. Meine Wanderung an der Straße entlang ist öde. Die Portugiesen fahren gut und schnell, kein Auto streift meinen Ärmel. Links eine Kirche, zwanzig Stufen hoch, ein Brunnen. Steinblöcke laden zum Ausruhen ein, es ist etwas schattig. Das wäre jetzt der Einsatz für mein Schwarzwälder Sitzkissen, das ich auf dem Camino Francés in Belorado, glaube ich, verabschiedet habe. Ich versuche mein Glück mit einer Kerze, bis zum Foto bleibt sie an. Ich überlege, für wen sie ist, und entscheide: für dich, wenn du magst, sonst für mich.
Eine wunderbare Aussicht. Das Lächeln einiger Blumen gibt mir Kraft weiterzugehen. Im Jetzt eine Erinnerung an das gestern im Buch „Peace" Gelesene. Im Weitergehen nehme ich mir das Wort „Erinnerung" vor. Welche Erinnerungen lasse ich zu? Erinnerungen, die mir Freude machen, Erinnerungen, die mir Kraft geben, Erinnerungen, die mich beschützen.
Wenn ich mich erinnere, bin ich nicht im Jetzt, sondern in der Vergangenheit. Wäre es nicht erstrebenswert, immer im Jetzt zu sein, erstrebenswert, dass die Blume mich anlächelt, ohne dass ich an das Gelesene von gestern zu denken brauche.
Ich komme am Tagesziel für heute, in Barcelos, an. Nach nur ein paar Schlenkern durch die Stadt finde ich eine nette Pension. Eine Herberge gibt es hier nicht und die Alternative, den Mannschaftsraum der Feuerwehr, mag ich heute auch nicht. Es folgt das normale Pflichtprogramm und eine Stunde Ausruhen. Eine SMS von Renate und Sigi wünscht mir weiterhin einen guten Camino. Ohne die Erinnerung an ein paar schöne Begegnungen auf dem Camino Francés hätte ich im Jetzt diese Aufmunterung nicht erhalten. Ich streife durch die Stadt, mache meine Fotos, produziere schöne Erinnerungen für morgen.
Dann merke ich es: Heute ist Weihnachten. Bei mir kam diesen Winter das Weihnachtsgefühl noch nicht auf. In Porto habe ich mich noch über die weihnachtlich geschmückte Stadt gewundert, in den nächsten beiden Orten nur gefreut. Heute gibt es aus den Lautsprechern an der Straße auch Weihnachtslieder. „Oh Tannenbaum" hat mich dann aufgeklärt. Mein Jetzt ist total aus dem Ruder. Weihnachten war im Kalender vor 14 Tagen. Doch ich habe heute, ganz verspätet, das Gefühl von Weihnachten. Und so freue ich mich über Weihnachten, wenn auch verspätet: Mein Weihnachten ist für diese Saison nun auch in Frieden begangen. Was kümmert mich der Kalender - mein Jetzt ist jetzt.
„Ineke-Time" rückt heran. Ich habe beschlossen, Aufgaben, die sich mir stellen, mit Namen von lieben Freunden zu benennen, die das Finden einer Lösung perfekt beherrschen. So laufe ich nicht allein durch die Stadt. Meine Pilgerfreundin Ineke ist bei mir und ich denke ihr zuliebe auf Englisch, weil ich holländisch nicht kann. Unser ausgewähltes Restaurant ist sehr gut. Zum Kaffee nehme ich mir das Buch „Peace" vor, denn mein gelber Führer will morgen 33 Kilometer von mir und das nach den drei Minietappen, die ich bisher geschlendert bin. Die Dichte der Herbergen ist mager, es gibt auch nicht besonders viele Pensionen und Hotels. Ein Hotel im Führer, angepriesen als „teuer", kann die Etappe teilen. Die aufgezeigte Alternative, per Taxi zurück und am nächsten Tag wieder hin, fällt für mich aus. Beim Camino Francés habe ich es genossen, zwischendurch nie „schwach" geworden zu sein und die 900 Kilometer an einem Stück per pedes geschafft zu haben.