Als ich um 6:00 Uhr aufwache, ist mir nicht nach Aufstehen und schon gar nicht nach Pilgern zumute. Ein solches Gefühl hatte ich auf dem Camino Francés erst nach 350 Kilometern. Geht diesmal alles schneller? Nach einer halben Stunde gebe ich mir einen Ruck. Nach der Dusche geht´s dann schon besser und ich packe zügig. Aus der Stadt hinaus schaffe ich es fast ohne Verlaufen. Warum muss ich auch immer nach der aufgehenden Sonne schauen statt auf die Wegweiser? Als die Strahlen der Sonne durch die Bäume fallen, denke ich an Nina und ich taufe diese Sonnenstrahlen „Das Nina–Licht". Die zugefrorenen Autoscheiben lassen mich auch für die vergangene Nacht auf frostige Temperaturen schließen, das bedeutet matschige und manchmal glatte Wege. Meine Stöcke Manni und Lijgien beschützen mich. Ist es zulässig, dass ich mir die Erinnerungen auf diese Weise ins Jetzt hole? Die Frage nach der Zulässigkeit an sich geht ja schon gar nicht, denn ich bin ja dabei, Bewertungen abzuschaffen. Also tue ich, was für mich gut ist, und jede Blume, jedes Lächeln einer Blume in den Vorgärten ist das „Lächeln der Michelle".
Auf dem letzten Schritt aus einem Wald hinaus klingen die Glocken „Stille Nacht, heilige Nacht" - nun zweifle ich doch an mir: Ja, ich habe genug getrunken - Wasser versteht sich! Dann freue ich mich nur noch. Eine halbe Stunde später stehe ich vor der Kirche und schon wieder: „Stille Nacht ...". Ich mache ausgiebig Pause und werde bei meinem Abgang mit der dritten Strophe belohnt.
Auf den zehn Kilometern bis zur Mittagspause denke ich darüber nach, ob ich auch einmal keine Gedanken haben kann.
Nach der Pause bin ich gestärkt, bin dabei, meine Albernheit mit den Erinnerungen einfach nur gut zu finden, und denke ganz nebenbei, dass nur Erinnerungen einer Art dabei sind: positiv gerichtete. Damit bin ich erst einmal zufrieden und komme irgendwann mal wieder beim Wort „Glauben" an. Was für ein Wunder auf dem Camino. Ich merke, mein Glauben ist über alle Zeiten derselbe geblieben. Aus dem rein kindlichen Glauben ist jetzt ein durch Gedanken und Erfahrung gestützter Glauben geworden. Geändert hat sich meine Einstellung zur Kirche. Die Gebäude brauche ich nicht für meinen Glauben, die Gemeinschaft wohl. Ja, eine Kirche ist recht nett zum Verweilen. Doch was war es neulich bei der Ankunft in Santiago bei meiner ersten Pilgerfahrt, das Gebäude oder das Getragensein von so vielen glücklichen Menschen? So leite ich für mich das Gebot ab: „Glücklich sein - immer und in jedem Augenblick" und füge hinzu „unter Berücksichtigung von §1 der Straßenverkehrsordnung in allen Lebenslagen".
Auf einer Mauer rechts sitzt ein junger Mann, bedeutet mir mit Lauten und Gesten herüberzukommen. Ich bitte ihn um Geduld, erst müssen mir die Autos eine Lücke lassen. Ich gehe zu ihm, drücke seine Hand. Er drückt sein Glück auf seine Weise aus. Mir bleibt nur, eine Weile seinen Arm zu streicheln, die Mauer ist recht hoch. Beim Weitergehen danke ich, dass ich einen Augenblick des Glücks schenken durfte, Danke. Oder habe ich es nicht vielmehr geschenkt bekommen?
Linker Hand ist gleich wieder Weihnachten. Im Freien steht eine Krippe aus dem Holz, aus dem ich sonst nur schöne Naturholzbänke kenne. Jesus, Maria, Josef, die heiligen drei Könige, Hirten, Ochs und Esel stehen da in natürlicher Größe. In ihrer Schlichtheit sind sie einfach nur perfekt. Glück folgt auf Glück in jedem Augenblick.
Bei der Ankunft in Ponte de Lima mache ich den Umweg über die neue Brücke, um den Sonnenuntergang zu genießen und einzufangen und Erinnerungen von der glücklichen Sorte zu schaffen. Die Herberge ist auch bald gefunden. An der Rezeption frieren zwei junge Damen und ein Herr. Nach der Frage, ob ich auch wirklich einen ganz warmen Schlafsack habe, runde ich den geforderten Beitrag großzügig auf und ernte ein Lächeln und ein „Obrigado". Die Herberge ist sehr schön und sauber. Gut, eine Heizung ist nicht da, dafür aber eine Mikrowelle. Ich entscheide mich dagegen, selbst zu kochen, weil das Essen in der Kälte keinen Spaß machen würde. Ich bekomme eingeschärft, pünktlich um 21:00 Uhr hier zu sein, weil dann abgeschlossen wird. Ich brauche nur eine Stunde, um in dem Ort einen Supermarkt und einen Bäcker zu finden, wo ich meinen Bedarf für morgen früh beschaffe. Den Wurf der Bons in einen Mülleimer taufe ich den „Emmanuelle-Wurf", ich stehe zu meinen Albernheiten. Zwei Ecken weiter kommt eine SMS von Chris mit dem Wunsch, dass ich meine geistlichen Ziele gefunden habe, und der Frage, ob wir nächstes Jahr zusammen nach Jerusalem pilgern. Wir haben neulich in einem Telefonat gemerkt, dass das unser beider Traum ist. Aber für mich stehen jetzt erst einmal die paar Tage Pilgerfahrt nach Santiago auf dem Programm, dann vielleicht Rom im Sommer, und erst dann plane ich weiter.
Als ich jetzt nach dem Essen bei meinem Kaffee sitze, fällt mir auf, dass ich noch gar nichts von dem Herzen aufgeschrieben habe, das ich heute Morgen auf einem Pfeiler gesehen habe. Klar, da war der Name sofort parat: „Katharina". Und ich kann mich nicht oft genug bedanken für ihr Verständnis und ihre Toleranz für meine Camino-Leidenschaft. Im März wird es spannend, wenn wir zusammen die zwei Caminopilgerinnen Jutta und Felicitas auf Gran Canaria besuchen.
Bei der Restaurantwahl habe ich nur auf das Essen, nicht auf die fehlende Heizung geachtet, dabei hatte ich mich wegen der Temperatur für das Restaurant und gegen das Selbstkochen entschieden. Wer meine schwachen Kochkünste kennt, kann es einschätzen, wie ich mich fühle: Heute war mir tatsächlich eher nach Selbstkochen zumute.