In meinem Daunenschlafsack war es ausreichend warm. Aus Langeweile habe ich gestern eine Nachricht an Dietmar geschickt, denn er hat ein Kontaktformular auf seiner Webseite. Meine E-Mail-Passworte kenne ich nicht auswendig und habe sie auch nicht mit. Dietmars Anruf daraufhin war erfrischend, denn er sagte nur: „Ich merke, du bist völlig entspannt." Der heutige Tag verspricht wieder schön zu werden, noch schöner, das geht nicht, denn das hätte ja schon wieder eine Bewertung in sich.
Zunächst erwartet mich ein abwechslungsreicher Weg mit eingebauter Seenplatte. Ich lerne abzuschätzen, wo der See am flachsten ist, kann meine Stiefel bis zum Knöchel eintauchen, ohne nasse Füße zu bekommen. Meine Stöcke Manni und Lijgien beschützen mich vor dem Ausrutschen und geben mir Halt. Ich bin glücklich, auch diese Abenteuer erleben zu dürfen und zu meistern. Der Himmel ist mittlerweile bedeckt, es fängt an zu regnen, also kommt die Regenhaube über die zum Trocknen am Rucksack befestigte Wäsche und der Schirm in die Hand. Rechts im Garten eines Hauses steht ein Mühlstein, linker Hand eine Kirche. Ich denke nicht mehr nach, ob mir das etwas sagen soll. Auf den Stufen zur Kirche hoch lächelt mich Michelle in Lila an. Die grüne Kirchentür ist geschlossen. Ich bin froh, denn auf „ein Haupt voll Blut und Wunden" habe ich keine Lust. Sicherlich drückt das Altarbild das Leiden entsprechend künstlerisch aus.
Fröhliche Musik begleitet mich über eine halbe Stunde lang, es wird irgendwo eine Fiesta sein. Es gab Zeiten, da hätte mich die schlechte Übertragung, ja die Störung der Ruhe der Landschaft gestört. Heute nicht, denn ich habe ja gestern mein Gebot formuliert: „Glücklich sein - immer - in jedem Augenblick."
Eine Bar zur Linken, ich kehre ein, der Barkeeper ist den Camino im letzten Oktober gegangen. Wir schwärmen uns gegenseitig etwas vor. Beim Abgang ein Blick nach draußen, deutlicher Regen. Also die Regenhose raus. Während ich mit dem Teil kämpfe, erzähle ich die Anekdote von Pamplona und Michelles Ruhe, die Regenhose festzuhalten, als ich damals mit dieser kämpfte. Ich ergänze: „Sie hat drei Kinder." Ein herzhaftes Lachen. Wir bemerken beide gleichzeitig, dass ich das Teil falsch herum anhabe. Das Lachen jetzt fällt noch deutlicher aus, und während ich wieder raus und rein herumwurstele, bemerkt er trocken: „Das Schwerste am Camino ist das Regenhosen-Anziehen." Wir verabschieden uns mit Handschlag und einem „¡Buen Camino!".
Ich bin wieder auf dem Weg, versehen mit ein bisschen Wegbeschreibung, es geht am Franzosenkreuz vorbei durch den Wald. Der Weg ist nach wie vor schön, aber schwer, denn es geht bergauf über viele Steine von der nassen, rutschigen Sorte. Die Wahl zwischen Schirm und Stöcken fällt auf Schirm. Ich bin wieder beim Thema „Glauben" und „Gott" angekommen. Warum denke ich überhaupt darüber nach? Ich merke, es geht nicht darum, was ich glaube, denn das ist irgendwie seit Langem klar. Es geht darum, dass ich verstehe, was ich glaube, und, wenn ich es verstanden habe, darum, es auch noch benennen zu können. Jetzt fordert der Weg wieder meine Aufmerksamkeit, die Natur ringsumher ist auch im Regen traumhaft. Ich komme über eine Kuppe und es ist Weihnachten, weiße Weihnachten. Ich bin einfach nur glücklich, hier zu sein und diese schönen Augenblicke erleben zu dürfen. Ich schlittere weiter durch die schöne portugiesische Landschaft und bin wieder bei Gott: Es gibt einen und genau einen (füge ich als Mathematiker hinzu) und der ist überall. Das Eine, das überall ist - dieser Gedanke gefällt mir und ich widme mich wieder dem Weg, der jetzt bergab geht und die Entscheidung, den Schirm oder die Stöcke in die Hand zu nehmen, über den Haufen wirft. Trotz des Regens sind jetzt eindeutig die Stöcke gefordert. Nachdem diese Wegpassage dank meiner Bergerfahrung locker überstanden ist, kommt wieder der Kopf ans Arbeiten. Ein paar Kilometer weiter ist mein Bekenntnis auf der rein sachlichen Ebene angekommen. Ich bekenne, Mitglied der Evangelischen Kirche zu sein, das kann man auch auf meiner Steuerkarte nachlesen. Nach ein paar Kilometern gebe ich zu, dass dieses eine reine Mitgliedschaft, aber kein religiöses Bekenntnis ist. Gut, dass der Weg sich zieht, ich langsam schlendere, Zeit habe. „Simplify your life", dieser Buchtitel fällt mir ein. Warum wende ich diesen Spruch nicht auch auf mein Glaubensbekenntnis an? „Ich glaube an Gott". Punkt - Ende – Aus. Ich bin zufrieden mit meiner Lösung, zumindest für heute, und merke, die Herberge sollte bitte bald kommen. Auf Bestellung steht ein paar hundert Schritte weiter ein großes „A" mit der Angabe „2.000 m". Es passt wieder einmal alles. Nach einer halben Stunde laufe ich in Rubiães in der Herberge ein, niemand ist da, die Tür steht offen. Ich finde mich zurecht, koche mir meinen Kaffee, schreibe Büchlein und mache mich dann auf in den Ort, um das Abendessen und Frühstück zu beschaffen.
Später, der Hospitalero hat mich zwischenzeitlich besucht, stelle ich fest, dass ich der sechste Besucher in diesem Jahr in dieser Herberge bin. Bei Katharinas Anruf gelingt es mir, ihr zu vermitteln, dass alles einfach prima (also die kühle Variante von prima) ist, es mir ausgezeichnet geht und morgen nur eine Entscheidung ansteht: noch eine Nacht in Portugal zu bleiben oder vier Kilometer weiter nach Spanien zu gehen. Mein Führer empfiehlt, den beiden Städten Valença und Tui je einen Tag zu widmen. Doch er kennt mich nicht so gut, wie ich mich kenne, nein, Städte sind auf dem Camino nicht mein Ding und zwei direkt hintereinander sowieso nicht.