Gegen Mitternacht habe ich es zum ersten Mal wahrgenommen und jetzt gegen 7:30 Uhr stelle ich fest, die durchschnittliche Wassermenge, die in Galicien im Januar vom Himmel kommt, scheint das heute zu tun. Ich stehe jetzt schon auf, denn spätestens um 9:00 Uhr habe ich die Herberge zu verlassen. Hätte ich nicht alle meine Teelichter schon verteilt, wäre es jetzt fast unerträglich gemütlich und romantisch. In aller Ruhe genieße ich jeden Bissen aus den fünf verschiedenen Tüten und trinke Saft statt Kaffee. Hier gibt es ja, wie gesagt, keine Küche. Um 8:30 Uhr macht eine Geisterhand der Marke Zeitschaltuhr das Licht an. Soll ich trotz des Regens losgehen, hört der Regen noch einmal auf? Heute Abend werde ich wissen, was mein Körper, was mein Gefühl entschieden hat. Jetzt erst einmal einpacken, eine Bar für einen Kaffee suchen und einen Briefkasten für die Postkarten, in Summe bin ich bei dreizehn Stück - eine gute Zahl. Dafür gibt es auf diesem Camino mehr SMS, gegen Abend kam gestern noch eine Alp, von Jürgen. Irgendetwas lässt mich hoffen, dass es nicht mehr regnet, und so packe ich die Regenhose ein. Die Bar meiner Hoffnung ist noch geschlossen, die anderen sprechen mich nicht an, also ziehe ich in einem Hauseingang dann doch die Regenhose an und finde auch die Regenhaube für den Rucksack. Es ist eindeutig, ich will nicht den ganzen Tag in der Stadt verbringen. Der Weg durch die Altstadt gefällt mir, im Regen ist leider alles grau in grau, das hat die Stadt eigentlich nicht verdient. Ein paar Blumen lächeln mich an. Es ist schön, hier sein zu können, einfach nur so, und nur dem zu folgen, was das Gefühl vorgibt. Nun, die Richtung geben die gelben Pfeile an, aber dass ich ihnen folge, habe ich ja selber entschieden, vor allem auch, dass ich es heute tue.
Der Weg weiter durch einen Wald ist nicht gut zu begehen, nach einer Autobahnbrücke geht es leicht bergab. Dann gibt es doch etwas viel Wasser, die Brücke über den nächsten Bach ist überspült, der Meilenstein steht mitten in einem See. Ich versuche, einen Weg diesseits der Autobahn zu finden, auf dem ich den reißenden Bach überqueren kann. Nix da! Also zurück. Richtige Karten hat der gelbe Führer nicht, die Sonne zeigt sich auch nicht, jemand zum Fragen ist auch nicht da, also dem Gefühl folgen. Erst einmal gehe ich auf der breiten Straße weiter, die parallel zur Autobahn verläuft, die dritte Straße rechts sagt mir zu. Durch ein kleines Dorf hindurch geht es unter der Autobahn durch weiter zum Bach. Eine Brücke, noch nicht überschwemmt, taucht linker Hand auf. Ich folge dem Weg, bin bald wieder in einem Ort. Kein Schild mit einem Ortsnamen ist zu sehen, aber ich finde einen Meilenstein vom Camino. Auf der Suche nach einer Bar lande ich in einem Supermarkt. Da dort ein Tisch mit Stühlen steht, lasse ich mich erst mal nieder, aber einen Kaffee will die Dame mir dann doch nicht machen. Sie greift sich den Schirm einer anderen Kundin, kommt mit hinaus und zeigt mir den Weg zur nächsten Bar. Dort bekomme ich zum Kaffee gleich noch unaufgefordert Oliven und zwei kleine Schinkenbrote. Ich bin im Jetzt - und glücklich. Zum Ermitteln des Hier habe ich keine Lust. Der Ortsname ist mir im Augenblick völlig unwichtig. Meine Gelassenheit ist abgesichert: Die Etappe ist nur 16 Kilometer lang, wenn ich nicht doch noch Lust verspüre, weitere 5,5 Kilometer zur nächsten Herberge dranzuhängen. Kaum losgelaufen, habe ich schon jetzt, ähnlich wie auf dem Camino Francés, meine liebe Mühe, nicht zu früh in Santiago anzukommen. Der 100-km-Stein wird heute noch auftauchen.
Heute hatte ich Momente ohne Gedanken nach hinten, ohne Gedanken nach vorne, nur Gedanken für die Blume, den Baum, das Haus, den Weg, den Vogel, den Hund - ohne Parallelerlebnisse aufzurufen, die mich aus dem Jetzt hinauskatapultiert hätten. Doch einen Gedanken für die Zukunft hatte ich, besser einen Wunsch: Wann werde ich an einem Hund vorbeigehen können, ohne dass er mich anbellt? Schön, dass ich noch Wünsche in meinem Leben offen habe. Eigentlich wollte ich mir keine Aufgaben mehr vornehmen, die mich unter Druck setzen könnten. Doch jetzt, während ich den Männern an der Theke zuhöre, ohne etwas zu verstehen, beschließe ich, etwas gegen meine Sprachunterbelichtung zu tun. Ich werde mit Italienisch anfangen, denn im Sommer ist ja Pilgern nach Rom geplant. Bin ich unbescheiden, noch nicht angekommen, mich schon auf das Übernächste zu freuen? Nein - nur glücklich!
Froh ziehe ich weiter. Ich freue mich, dass auch in Spanien Gebiete renaturalisiert werden. Als ich dann die nächste Brücke wieder unter Wasser stehen sehe, verstehe ich auch, was der Barkeeper gesagt haben mochte. Auch hier ist der Weg überschwemmt. Ich probiere es. Nachdem meine Knöchel im Wasser und meine Sohlen ohne Grund sind, kehre ich um. Also ist heute der Tag zu erkunden, ob ich meinen Weg auch ohne gelbe Pfeile finde. Ich prüfe die Richtung, präge mir den Zielort ein, die Sonne scheint, ich schlendere weiter durch Spanien ohne gelbe Pfeile, ein gutes Gefühl. In der letzten Bar hatte ich mir vorgenommen, etwas für meine Sprachkenntnisse zu tun. Als mir in einem Dorf ein Bauer mit der obligatorischen Hacke auf der Schulter entgegenkommt, will er mich beim Stichwort „Camino Santiago" zurückschicken. Meine Gesten und das Wort „agua" lassen ihn seine Stirn runzeln und ein Nicken folgt. Als ich O Porriño als Zielort einfließen lasse, zeigt er nur nach vorn. Die Richtung, die mein Gefühl auch vorgibt, findet ihre Bestätigung. Ein, zwei Kilometer weiter kommt mir eine junge Frau entgegen. Sie spricht rasend schnell und ich picke nur „rechts" und „Apotheke" auf. Rechtzeitig, bevor ein Gewitter losgeht, kommt eine Bar rechter Hand, ich bin wieder mal in einem Ort. Mein Weg ist nur nicht in meiner Karte verzeichnet und ein Ortsschild habe ich auch nicht gesehen. Die Uhrzeit lässt eine Pause zu. In der Bar erfahre ich, dass ich richtig bin, in einem Vorort von O Porriño, und wieder mischt sich in die Flut der spanischen Worte das Wort „Farmacia". Es ist Viertel nach drei. Hätte ich Eile, die nächste Herberge zu erreichen, wäre es kein Problem. Doch ich werde hierbleiben, es mir gut gehen lassen und morgen auch nur ca. 15 Kilometer laufen. Es ist schön, so viel Zeit zu haben und auch die Muße, eine spanisch-englische Unterhaltung in einer Bar zu führen.
Nach einer Weile sehe ich die Farmacia und auch ein Hinweisschild auf O Porriño, natürlich ohne Kilometerangabe. Ich laufe vor mich hin, hier einzelne Häuser, da eine Siedlung mit Ortsnamen, die nicht auf meiner Karte stehen. Obwohl ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin, fühle ich mich doch zwischendurch unsicher. Gut, warum soll es auf dem Camino anders sein als im Leben sonst, besonders dann, wenn ich mal von den gelben Pfeilen weg bin. Doch es tut auch gut, einmal andere Wege zu gehen, zumal ich mich ja in absoluter Sicherheit befinde: Es gibt viele Türen, an denen ich klingeln könnte. Die Herberge taucht auf, fast wäre ich daran vorbeigelaufen, denn ich komme aus einer anderen Richtung. Ein Schild klärt mich auf, dass ich zum Rathaus muss, um mich anzumelden. Auch das finde ich. Die Dame möchte fünf Euro haben, die habe ich nicht passend, also gehe ich erst einmal einkaufen und wechsle dabei meinen 50-Euro-Schein. Als ich zurück bin, ist sie mit drei Euro zufrieden, die hätte ich sogar passend gehabt. Dann wird die Polizei angerufen und wir verabreden uns in ein paar Minuten an der Herberge. Die beiden Polizisten schließen mir auf, ich bekomme zwei Telefonnummern, die ich anrufen soll, falls ich noch einmal zum Essen in die Stadt gehen möchte. Sie würden dann wiederkommen und mir öffnen. Ich habe eingekauft und bin froh, dem Regen entronnen zu sein. Bei meiner Wäsche setze ich das Bad unter Wasser und dann genieße ich es nur noch, heute eine super geheizte Herberge für 48 Pilger für mich allein zu haben. Ich finde auch den Stecker für den Getränkeautomaten, der einen fürchterlichen Lärm verbreitet – danach nicht mehr. Als ich meine Sachen gleichmäßig im Zimmer verteile, stelle ich mir mit Schrecken vor, wie das bei Regen und einer vollen Herberge aussehen würde. Ich bin zufrieden, dass ich alles in Plastiktüten verpackt habe, vor allem den Schlafsack, der ganz unten in einem Extrafach im Rucksack residiert. Der Regenüberzug scheint alles Wasser dorthin zu baggern. Hauptsache, der Schlafsack ist trocken, der Rest wird morgen auch trocken sein. Laut gelbem Führer habe ich in der Stadt nichts verpasst. Ich habe es warm, ich habe Zeit, also ziehe ich Zwischenbilanz: Für 135 Kilometer habe ich sieben Tage gebraucht. Gut, meine Umwege dazugerechnet, ist das für mich eine gute Bilanz, ich erreiche mein Ziel, diese Pilgerfahrt zu schlendern. Bis Santiago, so habe ich im Führer herausgesucht, sind es noch neun Herbergen und 100 Kilometer, also nehme ich mir, grob gerechnet, fünf Tage vor. Es reizt mich, wieder den Weg nach Finisterre zu gehen, um zu erfahren, wie es ist, den gleichen Weg noch einmal zu laufen. Das sind gut 90 Kilometer, ich bin sie damals in drei Etappen gelaufen. Die Entscheidung wird in Santiago fallen.
Ein Pilger (oder ein Vagabund?), den ich im Ort schon mit seinem Hund gesehen habe, klopft an die Herberge. Ich unterhalte mich mit Michael, teile meinen Wein. Ich bin Luxuspilger, er ein Vagabund - eine schöne Stunde der Gemeinsamkeit. Es treffen zwei Spanierinnen ein, ich gebe ihnen die Telefonnummern, die man mir aufgeschrieben hat. Eine geht zum Rathaus zur Anmeldung. Sie leben in der Nähe von Tui, sind heute gestartet und fix und fertig von den Überschwemmungen auf den Wegen. Ich habe nach Michael gesehen, seine Sachen sind da, er und sein Hund nicht. Ich schwanke zwischen „schade" und „Gott sei Dank". Ich habe ihm noch beim Abgang gesagt, dass ich irgendwie Angst vor ihm habe. "Warum, ich bin doch ein Peregrino?" – „Ich habe Ängste, das hat nur bedingt etwas mir dir zu tun", war meine Antwort. Er hat sich Pappe besorgt, um unter dem Vordach der Herberge zu nächtigen. Ich spreche noch einmal mit ihm und er wird unten in einem Raum in der Herberge sein Domizil für die Nacht finden. Mit den beiden spanischen Damen gibt es eine kurze Diskussion, sie haben klare Anweisungen der Polizei, die ja für unsere Sicherheit verantwortlich ist, wir aber sind Peregrinos. Dass der Hund mit hineinkommt, passt uns alle dreien nicht, aber Michael und der Hund haben einen anderen Raum, die beiden Damen und ich haben auch je unser Zimmer. Morgen haben wir drei dasselbe Ziel, bei der Frage nach der Startzeit bin ich eindeutig: mal sehen, wie es morgen früh ist.