Die Herberge liegt direkt neben der Autobahn, ein ungewohntes Geräusch des Nachts. Den Topf, in dem ich heute mein Kaffeewasser erhitze, schätze ich auf sieben Liter, die kommen derzeit auch pro Sekunde vom Himmel. Die beiden Spanierinnen haben gestern auch bestätigt, dass dieser Januar kälter und feuchter ist als sonst. Aber was klage ich, an den ersten paar Tagen meiner Pilgerfahrt gab es ja einfach nur wunderschönen Sonnenschein und auch gestern habe ich die Sonne gesehen, nicht nur im Lächeln der Blumen. Nichts in mir will heute losgehen. In dem gelben Führer steht dann auch noch, dass man erst ab 17:00 Uhr in die Herberge in Redondela eingelassen wird, also ist jetzt um 9:20 Uhr noch kein Grund zur Eile. Fünf vor zehn habe ich alles fertig gepackt, klopfe artig ans Zimmer der Damen und verabschiede mich. Wieder plagen mich Zweifel, ob ich mich richtig verhalte. War ich über die Überlegung „Richtig" oder „Falsch" nicht schon mal hinaus?
Raus aus der Stadt. Ich konzentriere mich, erinnere mich, an welcher Stelle ich in den gelben Führer schauen sollte. Einmal stoppt ein Auto und weist mir den rechten Weg. Sind heute weniger Blumen am Wegesrand oder übersehe ich sie nur? Kaum ist der Gedanke zu Ende gedacht, sind sie wieder da und schenken mir ihr Lächeln. Ansonsten ist das eher ein Tag der Selbstmotivation. Freude, wenn es mal einen Augenblick aufhört zu regnen, Freude, wenn der Weg nicht direkt an der Nationalstraße entlanggeht, Freude, dass der Weg nicht überschwemmt ist, also ist Teer das kleinere Übel - heute. So brauche ich heute auch nicht meine Pfadfinderkenntnisse herauszusuchen. Als rechter Hand ein Blumenladen mit Fleurop-Zeichen auftaucht, bin ich versucht, Katharina einen Strauß zu senden. Schade, dass ich dem spontanen Gedanken nicht folge, doch der Gedanke, da bin ich sicher, wird auch so ankommen. Ich bin früh dran. Trotz des gleichen Wetters, dem ich zu Hause ja eigentlich entfliehen wollte, als ich Ende November die Pilgerfahrt plante, hat der Tag seine Reize, sein Schönes. Als mein Stift beschließt, dass die Notizen ein Ende haben sollen, folge ich diesem Hinweis und verlasse das Restaurant, in dem ich mir nur einen Café solo grande gegönnt habe. Stopp in der nächsten Bar. Mit vielen Gesten bekomme ich einen Stift geborgt, sodass der Tag wieder schriftlich weitergehen kann. Kurz zuvor habe ich einen Italiener getroffen, ein Jahr jünger als ich und in Tui gestartet. Das muss der sein, den die beiden Spanierinnen gestern getroffen haben, denn auch mir erzählt er die Geschichte von seinem zu dünnen Schlafsack. Es ist auch nicht sein erster Camino. Er berichtet von einer Gruppe von Staffelpilgern (eine Gruppe startet in Rom, läuft 14 Tage und wird von der nächsten Gruppe abgelöst und das geht so weiter bis nach Santiago), die bald von Rom nach Santiago starten werden. Richtig, wir sind ja im Heiligen Jahr. Noch steht mein Plan, am 15. August ab Lausanne nach Rom zu pilgern. Am Folgetag der Doppelhochzeit zweier meiner vier Söhne bekomme ich wohl am besten die Energie dafür. Denn darum geht es doch, jedenfalls bei mir, der Energie die Richtung zu geben, sodass Glück entsteht.
Als ich im Ort ankomme, laufe ich erst mal in Richtung Ortsmitte. Gerade, als ich nach dem Führer greifen will, sehe ich die Herberge schräg über den Platz vor mir liegen. Der Führer sagt, sie macht erst um 17:00 Uhr auf, an der Tür steht aber 13:00 Uhr und so kann ich die Klinke mit Erfolg drücken. Eine nette Spanierin empfängt mich, zeigt mir alles. Im Zimmer liegt schon Remo aus Italien im Bett, er hat also doch kein Hotelzimmer genommen. Während ich mich ausbreite, macht er sich auf, ein Internetterminal zu finden. In der Herberge ist auch die Bücherei, ich braue mir meinen Kaffee und lese. Michael hat mir gestern ein Buch empfohlen: Manolo Link – „Ein neues Leben auf Bali - Insel der Götter". Er wollte es mir fast schenken, doch ich habe ihm versichern können, dass mir die ISBN-Nummer reicht, da die zudem leichter ist als das Buch selber, das er noch nicht ganz ausgelesen hatte.
Im Schreibwarenladen habe ich eben viel Freude verbreitet, als ich nach der Auswahl der Postkarten meinen Stift auseinandergeschraubt habe. Selbstverständlich habe ich das Wort für Kugelschreiber aus meinem Wörterbuch herausgesucht, Kugelschreibermine stand aber nicht drin.
Zurück in der Herberge höre ich aus dem Nachbarraum die Stimmen der beiden Spanierinnen, sie sind also auch bis hierher „durchgeschwommen". Der Vater der Jüngeren kommt gleich, um die überflüssigen Sachen abzuholen und die nassen Sachen gegen trockene auszutauschen. Sie haben eben den Vorteil, aus der Gegend von Tui zu stammen, das ist mit dem Auto bis hierher in zwanzig Minuten zu schaffen, zu Fuß halt in zwei Tage. Heute ist dann auch der Tag des Namensaustausches gekommen: Andrea und Magda.
Die anderen essen in der Herberge, mir ist zur Abwechslung mal nach warmem Essen, genau jetzt fehlt mir eindeutig Ineke. Nun, warm ist das Essen und Katharina wird sich freuen, wenn mir nach der Rückkehr nach Salat und Gemüse zumute ist. Warum nur habe ich das Wörterbuch wieder in der Herberge gelassen...?
Zum Ausklang haben wir in der Herberge noch einen netten fünfsprachigen Abend. Ich lerne Andreas' Vater kennen, der vollbepackt die Herberge verlässt. Remo ist besonders betrübt, dass so wenige Kirchen geöffnet sind. Ihn als Priester trifft das wohl besonders hart. Ich habe mich auf dem Camino Francés im Sommer schon daran gewöhnt.