Remo ist der erste, „schon“ um 8:30 Uhr verabschiedet er sich abmarschbereit. Als ich mit dem Frühstück fertig bin, ziehen die beiden Damen Andrea und Magda los, sie wollen unterwegs frühstücken. Ich trödle herum, verpacke mich in der Regenkleidung und bekomme dann kaum einen Tropfen ab. Ich habe lange genug getrödelt, der Regen hat aufgehört. Heute Vormittag genieße ich nicht nur das Lächeln der Blumen, sondern auch das der Sonne. Wenn ich in die richtige Richtung blicke, sehe ich sogar strahlend blauen Himmel. Um 11:00 Uhr schon gönne ich mir den ersten Café solo grande und einen Saft.
Ein schöner Weg, alles passt und ich merke, es geht: Ich kann auch, ohne nach hinten und vorn zu denken, einfach nur gehen, einfach nur sehen, einfach nur fühlen. Links der Blick auf die Meeresbucht. Nach dem Überqueren der N 550 seltsam lange keine Wegmarkierungen, also den gelben Führer raus, aha! Ich hätte der Straße folgen müssen und nicht diesen schönen Waldweg nehmen dürfen. Ich habe mir heute ja einen Umweg aus der Stadt hinaus gespart und heute war noch keine Brücke überschwemmt, also musste wohl mein Unterbewusstsein für den notwendigen Schlenker sorgen, der den Tag abrundet. Im nächsten Ort (Arcade) angekommen, fängt es pünktlich an zu regnen - Schirm raus - für die Regenhose bin ich zu träge. An einigen Bars und Restaurants gehe ich im strömenden Regen vorbei. Als der Regen aufhört, gefällt mir eine Tür links und ich weiß, warum ich bis hierher weitergegangen bin: Die beiden Spanierinnen kommen um die Ecke, der wohltuende Drei-Minuten-Plausch, dass der Camino herrlich sei, findet statt, auch wenn die beiden fußtechnisch eher am Ende sind. Aus reiner Angeberei zeige ich den Bordsteinhopser, mit Rucksack ist das auch für mich Premiere.
Die Wirtin des Restaurants stürze ich in riesige Probleme, als ich einen Ensalada haben möchte und weiter nichts. Nach einigem „Si“ und „No“ sieht sie zufrieden aus und verschwindet in der Küche. Ich bin gespannt. Gestern war mir schon nach Vitaminen. Der Salat ist liebevoll zubereitet, ich schaffe es zu verhindern, dass auch noch der Fernseher angeschaltet wird. Dafür holt sie ein Büchlein heraus, in dem sie die wichtigsten Worte in mindestens 4711 Sprachen verzeichnet hat. Mein Gefühl hat mich vor der richtigen Tür halten lassen. Selbst die inzwischen erlangte Erkenntnis, dass ich heute erst sechs Kilometer zurückgelegt habe, kann mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Es muss daran liegen, dass ich das immense Gewicht von vier geschriebenen Postkarten schon seit gestern Abend überflüssigerweise mit mir herumtrage. Das ist die Ebene, auf der ich heute Probleme zulasse. Möge diese Ebene für immer anhalten.
Nach dem obligatorischem Café solo grande geht es weiter. Die beiden Spanierinnen tauchen vor mir auf, sie haben gerade Rast gemacht. Der Platz gefällt mir, sie sind im Aufbruch, also das übliche kurze „Hola“ und die Frage, ob ich den gesperrten Weg ausprobiert habe oder die ausgewiesene Umleitung gegangen bin. Dann habe ich diesen schönen Weg wieder für mich allein und auch noch - fast - ohne Regen. Irgendwann überholen mich ein Spanier und eine Holländerin. Als ich „Deutscher“ sage, kontert sie sofort: „Ach, Hermann!“ Sie hat meinen Eintrag in einer Herberge gelesen, aber nicht dort übernachtet, sondern in einer Pension. Nicht nur meine Bemerkung über die Nachttemperatur in der Herberge hat sie abgeschreckt. Plötzlich ist mir seltsam: „Du hast dein Handy verloren“, schießt es mir durch den Kopf. Ich klopfe alle Taschen ab, halte an und mache gründliche Visite am Wegesrand – kein Handy. Also packe ich alles wieder ein und kehre um. Keine hundert Schritte zurück liegt es mitten auf dem Weg. Das Gefühl kam wohl genau in dem Augenblick, als es meine Tasche verlassen hat. Ich werde noch öfter meinem Gefühl folgen, immer öfter.
Ein wunderbarer Regenbogen entschädigt für die Aufregung. Bei einer Kapelle treffe ich wieder die beiden Spanierinnen. Sie sitzen auf der Bank davor in einem Gespräch mit ein paar Dorfbewohnern. Die restlichen Kilometer gehen wir auf Sichtweite. In der modernen Herberge von Pontevedra sind wir zu siebt. Ein Australier mit seiner Freundin hat die überflutete Passage per Bus und Bahn gemeistert und eine Etappe übersprungen. Die Wäsche hängt auf der Leine, der Kochtopf für das Kaffeewasser reicht wieder für eine Großfamilie. Der Camino ist wieder einmal vom Feinsten!
Die Spanierinnen sagten gestern, dass ich den falschen Wein gekauft hätte. Der aus dieser Gegend heißt „Albanno“ (so lese ich jedenfalls das, was Magda mir ins Büchlein geschrieben hat). So gehe ich einkaufen und esse mit Magda und Andrea in der Herberge zu Abend trotz des Hinweises auf den falschen Wein. Magda ist total müde und verschwindet schon bald im Bett. Letzte Nacht war starker Wind, der ums Haus pfiff, und sie konnte nicht richtig schlafen. Andrea erzählt mir ihre Pläne, die Zeit zu nutzen, bis sie endlich ihren Traumjob bekommt. Ich kann sie nur darin bestärken, sich die Welt anzusehen und Sprachen zu lernen. Das ist ja auch auf diesem Camino ein Ziel für mich geworden. Bei ihr ist es Englisch, bei mir jetzt erst einmal Italienisch. Sie räumt auch mit dem Aberglauben auf, dass die Spanier die Compostela in die Bewerbungsunterlagen heften. Weder sie noch ihre Bekannten würden das tun.