7:30 Uhr ist die verabredete Weckzeit, denn dann schaffen wir es, pünktlich zur Sonntagsmesse um 12:00 Uhr in Santiago zu sein. Es gibt ein gemeinsames Frühstück aus all unseren Tüten. Sebastian ist noch nicht wach genug, um das Teewasser in seine Flaschen zu füllen, ich helfe ihm und er bewundert meine ruhige Hand mit der Bemerkung: „Na ja, bei fünf Kindern kannst du Flaschen schon gut füllen." Erst zu Hause bekomme ich mit, dass das mein Geschenk zu seinem dreißigsten Geburtstag war.
Ich gehe als Vorletzter los, habe den schnellen Gang eingelegt. Die anderen scheinen auch schnell unterwegs zu sein, denn ich überhole niemanden. Erst kurz vor Santiago hole ich Andrea und Magda ein, bald kommen Mike und Raphael von hinten, sie haben noch einen Kaffee-Stopp in einer Bar gemacht, Sebastian taucht auch auf. Dann fällt das Feld wieder auseinander. Ich habe das Bedürfnis, die Messe allein zu besuchen. Die Zeit reicht noch, um mich einmal zu verlaufen und um die Compostela abzuholen. Ich frage im Pilgerbüro nach Informationen zum Camino Francés und bekomme eine A4-Seite mit allen öffentlichen Herbergen bis Roncesvalles und den Entfernungen zwischen ihnen. Gut, mehr brauche ich nicht. Um 11:58 Uhr bin ich an der Tür der Kathedrale und finde diese verschlossen. Die Messe hat schon angefangen und während der Messe ist das Hauptportal zu. Mir fällt der Seiteneingang ein und richtig, hier komme ich noch hinein. Ich stelle meinen Rucksack an eine Säule und finde ein Plätzchen im Seitenschiff, ich bin angekommen. Das Gefühl ist ganz anders als im Sommer - das Getragensein von vielen glücklichen Pilgern ist nicht da, denn die paar Pilger verlieren sich in der Menge der Einheimischen und Touristen. Ich sehe Sebastian zum Abendmahl gehen, gehe selber auch, deshalb bin ich ja hierher gelaufen. Nach der Messe laufe ich Remo auf meinem Weg zur Statue des Apostels Jakob in die Arme. Es ist schön: Von den zehn Pilgern (Sue, Lin, Mike, Raphael, Andrea und Magda, Remo, die zwei Australier und Sebastian), die ich auf dem Weg getroffen habe und die in meine Richtung gegangen sind, treffe ich im Gottesdienst sechs wieder. Der Weihrauchkessel wird heute nicht geschwenkt, dafür ist wegen des Heiligen Jahres die Heilige Pforte geöffnet und ich schreite hindurch. Das nächste Treffen ist im Tourismusbüro. Raphael setzt eine Beschwerde wegen der geschlossenen Herberge in Briallos auf.
Dann die allerletzte Verabschiedung mit einer kleinen Tanzeinlage in der Touristeninformation. Ich mache mich auf den Rückweg, es ist jetzt 14:00 Uhr. In nur zwei Stunden habe ich in Santiago alles genossen, was dieses Mal dran war, letztes Mal bin ich zwei Tage geblieben. Mein A4-Führer bietet eine Herberge nach fünf Kilometern und eine nach weiteren 16 Kilometern an. Meine Wahl fällt auf die längere Strecke. Aus Santiago hinaus komme ich meiner Tradition nach, Abstecher zu machen. Ein paarmal nachfragen und bald habe ich verstanden, dass ich auf die blauen Pfeile achten soll, die, mit einer Spirale beginnend, oft gut versteckt und im Übrigen recht selten sind. So gewöhne ich mich daran, nach dem Weg zu fragen, und meine wenigen spanischen Vokabeln festigen sich. Ich komme in Arca do Pino an, bin der Einzige in der Herberge. Erinnerungen aufzufrischen, wird wohl nicht klappen: Die Bar, in der ich von Linde das vierblättrige Kleeblatt bekommen habe, ist geschlossen, die Superherberge, von der Kirstin und Tina geschwärmt haben, auch. In dem Restaurant, das Ineke ausgesucht hatte und in dem wir unser erstes Abschiedsessen gefeiert haben, wird heute nicht gekocht. Ein neuer Camino hat begonnen.
Oft habe ich in den letzten Tagen die Sitte gepflegt, einen Stein aufzuheben, ihn weiterzutragen und auf einem Kreuz oder Meilenstein abzulegen. Von Sebastian habe ich übernommen, die Muschelkacheln zu berühren - er lässt keine aus - ich tanke nur hin und wieder dort Kraft. Als ich heute Nachmittag vor einer geschlossenen Kapelle stand, kam mir der Film „Knocking on heaven's door" in den Sinn. Seitdem klopfe ich an jeder geschlossenen Kirche und Kapelle dreimal an - doch ohne Wehmut. Ich habe mich in der Kathedrale in Santiago heute prima zurechtgefunden. Ich habe auf dem Caminho Português gemerkt, dass ich meinen Glauben von Gebäuden trennen kann und dass es nur an mir liegt, in welcher Kirche ich Ruhe, Frieden finde. In den letzten Tagen bin ich nicht dazu gekommen, im Buch „Peace" weiterzulesen. Das, was ich gelesen habe, ist jedoch schon in meinen normalen Rhythmus eingegangen. Ich halte Ausschau nach einer Blume, finde eine, lächle mit. Das Lächeln verändert mein Empfinden, macht mich glücklich. Ich muss nicht mehr jede Blume fotografieren, nicht jede Blume „Michelle" nennen, ich sehe eine Blume und ein Lächeln der Schöpfung Gottes sendet mir Energie. Wobei ich nahtlos beim Thema „Reiki" angekommen bin. Mike ist Reiki-Master wie Nina aus Finnland. Doch ich habe sie ganz anders erlebt als Nina. Als ich Sebastian etwas von meinem Gespräch mit Simone über den radikalen Konkretivismus erzähle, weiß er etwas damit anzufangen, setzt noch eins drauf: Er spricht von Menschen, die der Überzeugung sind, nur sie existieren und der Rest ist Einbildung - Utopie ... Ich habe ihn nicht ganz verstanden, es war wohl schon zu dunkel. Nur die folgende Episode aus dem Leben seines Freundes habe ich in Erinnerung: „Was ist Solipsismus ?", so der Lehrer. Die knappe Antwort in der Klausur seines Freundes, die die volle Punktzahl ergeben hat, war: „Da es Sie nicht gibt, beantworte ich die Frage nicht."
Es ist vielleicht an dieser Stelle zu bemerken, was mir der Camino bedeutet, bis jetzt gegeben hat und noch geben wird: Augenblicke der Überraschungen, Augenblicke der Freude, Augenblicke des Glücks. Der Weg zurück - so hoffe ich - wird mir zeigen, wie ich den Camino im Alltag genießen kann.