Alles war heute Nacht schön ruhig, selbst ich. Kurz bevor der Wecker um 7:30 Uhr Laut gibt, stehe ich auf, durchsuche die Küche nach Topf und Tasse und werde fündig. Während das Kaffeewasser kocht, packe ich. Um 8:30 Uhr wird es hell und ich bin auf dem Weg, finde die blauen Pfeile, an manchen Kreuzungen erst, nachdem ich ein paar Wege ausprobiert habe. Dann bin ich in Gedanken, der Augenblick - mein Augenblick - an der Jakobsstatue in der Kathedrale in Santiago hat mir Kraft gegeben. Auch wenn ich sonst nichts von Heiligenbildern halte, das, welches mir der Priester dort gegeben hat - er hat mich extra zurückgeholt - das werde ich behalten. Es kommt so, wie es kommen muss: Wenn ich denke, verpasse ich den Weg. Ich frage mich durch, bekomme eine Richtung und werde über die N 547 in den nächsten Ort geschickt. Eine nette Polizistin an der ersten Ecke der Innenstadt von Arzúa/Centro zeigt mir den Weg zur Herberge. Ich will hier nicht bleiben - nur einen Stempel ergattern und ein paar Erinnerungen auffrischen: Hier habe ich Linde und Uli kennengelernt, habe mit Kirstin, weil wir zu spät kamen, beinahe vor verschlossener Herberge gestanden. Im selben Obstladen wie „neulich" versorge ich mich für den Nachmittag. Nach einem Kaffee geht's dann weiter, noch 14 Kilometer, es ist erst 14:05 Uhr. Mélide ist mein Tagesziel. Hatte ich auf dem Hinweg nach Santiago im letzten Sommer viel Zeit, so möchte ich jetzt so weit wie möglich nach Hause laufen, in Ruhe nach Hause kommen, möchte diesmal sanft zu Hause ankommen und nicht wieder unsanft „aufschlagen". Irgendwann merke ich mal wieder, dass ich lange keine Pfeile mehr gesehen habe - macht nichts - aufgrund des Sonnenstandes ist die Richtung klar. Kein Mensch zum Fragen weit und breit - bald bin ich wieder auf der N 547, das ist wohl heute mein Schicksal. Eine Bar taucht auf, bis Mélide sind es noch fünf Kilometer, die spule ich auch noch auf der Straße ab. Der Regen stört mich nicht, mein Obst habe ich verputzt, die Blumen am Wegesrand denke ich mir und so kann ich lächeln. Heute sind mir nur fünf Pilger entgegengekommen, na ja, ich bin ja oft nicht auf dem ausgewiesenen Weg gegangen. Mit einer Pilgerin habe ich sogar ein paar Worte gewechselt, ihr so in etwa den Standort bestimmt - so gut ich es halt selber wusste. Sie hatte Plastiktüten um die Schuhe gewickelt und saß ziemlich fertig am Wegesrand: „Willst Du ein Stück Schokolade?", waren ihre Begrüßungsworte. Seit Mike es in Teo mit meinen Schuhen gut gemeint hat und sie zum Trocknen kopfüber auf den Fußboden mit der luxuriösen Fußbodenheizung gestellt hat, machen sie mir Probleme. Die paar Kilometer, die ich noch vor mir habe, wird es aber gut gehen, vielleicht ist auf dem Rückweg Premiere für ein Blasenpflaster. Ich hole meine A4-Wegbeschreibung hervor und bin geneigt, mein Ziel für den Weg zurück auf Sarria zu reduzieren, dann hätte ich heute die Hälfte geschafft. Doch jeder Ortsname, den ich lese, weckt den Wunsch, noch einmal dort vorbeizukommen, so wie heute in Arzúa: Es war anders als im letzten Sommer, doch es war einfach nur schön.
Ich bin sicher, dieser ist nicht mein letzter Camino, und irgendwann habe ich vielleicht den Mut, den Camino „richtig" ab Haustür zu gehen, mit Abendmahl in Santiago, Schwimmen in Fisterra und dann zurück. Doch auch diese 14 Tage bisher waren einfach wunderbar. Mein Ziel ist ja so einfach: „Glücklich sein", und für mich ist es so einfach, es zu erlaufen.
Als ich aus der Bar hinauskomme, laufe ich direkt auf einen Wegweiser zum Camino zu . So einfach ist es, den Weg zu finden. Es geht schön durch einen Wald, und schön ist auch, dass ab und an blaue Pfeile zu sehen sind. Nur die gelben in Gegenrichtung sind nicht zu sehen: Ich bin wieder mal auf Umwegen. Bald ist der Wald zu Ende, ein paar Häuser tauchen auf, quer über den Zaun spreche ich eine Frau an, frage nach dem Weg - das kann ich mittlerweile auf Spanisch perfekt - und ich verstehe sogar, dass es jetzt bis Mélide drei Kilometer sind. Also war mein Umweg nur zwei bis drei Kilometer lang, das ist doch human. In Mélide stoße ich wieder auf den Camino, frage mich zur Herberge durch und verstehe vom Wortschwall einer Spanierin so viel, dass diese geschlossen ist und es eine Notherberge gibt. Die Richtungsangaben sind mir zu unbestimmt, mein heutiger Bedarf an Umwegen ist gedeckt. Nur noch zwei Passanten spreche ich an und schon stehe ich vor der Herberge. „Strohhut" hat mich auf meinem ersten Camino hier angesprochen. Die Bank ist noch da, doch im Haus Gerüste, Licht, Arbeiter. Ich suche die Umgebung ab nach Wegweisern zur Notherberge. Ein netter Spanier hält mit dem Auto und erklärt mir den Weg. Die Himmelsrichtungen in seiner Wegbeschreibung passen nicht zu seinen Handbewegungen. Ich erinnere mich, im Sommer eine Touristeninformation in der Stadt gesehen zu haben, und mache mich auf den Weg, klopfe im Vorbeigehen wie üblich an einer Kirche an. Eine ältere Dame schickt mich zu einer anderen Kirche, dort bekomme ich meinen Stempel, aber keine Auskunft. Die Dame ist glücklich, mir geholfen zu haben, und das hat sie im wahrsten Sinne des Wortes: Ich habe mich getraut, an den im Gebet versammelten Gläubigen und auch vorbei am Altar in einen Raum zu gehen in dem ich Stimmen hörte. Ich bedanke mich nicht nur bei den beiden Herren dort, sondern vor allem bei der netten Dame. Im Tourismusbüro bekomme ich dann einen Stadtplan und mache mich auf den Weg, frage noch einmal auf dem zentralen Platz nach, ob ich auch die richtige Straße gewählt habe - keine Lust auf weitere Umwege - ja, es stimmt. Ich zähle die Querstraßen, zücke meine Brille unter einer Laterne, finde das Gebäude, laufe herum und finde auch den Eingang. In einer riesigen Halle ist eine Containerherberge aufgebaut. Die Rezeption ist nicht besetzt, in einem Zimmer ist Licht, ein Pilger ist da. Ich spreche ihn auf Englisch an, wähle mein Bett, dusche etc. Die Rezeption ist immer noch nicht besetzt, das lässt mich völlig kalt. Ich mache mich auf in die Stadt zum Abendessen, denn es gibt zwar eine Küche und einen Aufenthaltsraum, aber es sind halt Container. Ich verabschiede mich von dem anderem Pilger auf Deutsch, denn ich habe mitbekommen, dass er in dieser Sprache telefoniert hat. Es ist seine erste Pilgerfahrt und er ist ab León unterwegs. Auf meine Frage, ob er bei der Bundeswehr ist, antwortet er mir, ein Freund habe ein Secondhand-Geschäft für Armeekleidung. Er zitiert seinen Vater: „Beim Bund schleppen die sich zu Tode, die brauchen keinen Feind mehr." - „Das Zeug war billig, ist aber furchtbar schwer", fügt er hinzu.
Die Restaurantwahl ist so schwierig wie im Sommer: Pulpo ist die Spezialität hier, aber das ist so ganz und gar nicht mein Ding. Ansonsten überall die vorgedruckten Schilder der Nullachtfünfzehn-Gerichte. Noch ein paar Kilometer weit werden mich diese kulinarischen Grausamkeiten begleiten. Das Restaurant, dass ich auswähle, erweist sich als Stammkneipe. Zuerst setze ich mich, fühle mich aber unwohl. Stehe also auf und gehe. Der Wirt kommt hinterhergeschossen, doch ich will nur raus, dann lieber einen Hamburger als den Zigarettenqualm hier.
Im Büchlein meiner Schwester bin ich auf der letzten Seite angekommen. Morgen werde ich also noch für die letzten Tage ein neues Büchlein finden dürfen - und nach Hause tragen.
Als ich meine Fersen betrachte, zögere ich, zur Freude Michelles ein Foto davon zu machen. Es ist alles erträglich, doch ein baldiges Umsteigen auf den Bus als Heimkehrmethode rückt näher. Nur bis Sarria zu gehen wird wahrscheinlich - mal sehen - ich lasse mich von mir überraschen.
Zurück in der Herberge: die Rezeption ist immer noch nicht besetzt. Küche und Aufenthaltsraum sind zwar nicht gerade warm und gemütlich, aber vom Feinsten – von wegen Notunterkunft. Alles neuer Luxus der Extraklasse, nur halt als Containeredition, und kein Topf, kein Teller, keine Tasse in der Küche - so kann die Küche auch weiterhin gut aussehen. Ich unterhalte mich noch mit Thomas, bekomme ein Stück Lebensgeschichte, die Hospitalera kommt und es geht früh zu Bett.