Kurz vor 7:00 Uhr fällt Thomas sein Bundeswehrkochtopf herunter und der ganze Saal ist wach - wir beide. In diesem Teil koche ich dann das Kaffeewasser für uns beide. Gemeinsames Frühstück, meine Tüten werden bis auf Brot und Wurst leer. Wir verabschieden uns herzlich. Ich mache mich auf in den Ort, finde den Laden, in dem ich im Sommer Postkarten gekauft und „Strohhut" kennen gelernt habe, aber ein Büchlein haben sie nicht. Dafür bekomme ich einen Tipp, wo es so etwas gibt, und eine Wegbeschreibung dorthin. Es klappt auf Anhieb, ich finde den Laden und kann mir aus sechs Büchlein aller Größen und Farben das schönste aussuchen - es sieht auch nach dem schwersten aus. Dafür habe ich viel Platz für meine Notizen. Aus dem Ort finde ich gut hinaus, dann ist der vorgeschriebene Weg weg, er findet mich später wieder. Ich kenne das Etappenziel, ich kenne die Richtung, kann an der Sonne ablesen, ob ich in Richtung Ziel unterwegs bin oder wieder mal einen Abstecher mache. Eine Kirche taucht auf, hier auf den Bänken habe ich im Sommer Picknick gemacht, habe andere Pilger fotografiert. Heute ist es der richtige Platz, um die Regenhose auszuziehen. Ein Stück weiter eine Bar, ein Mann lädt sein Auto aus, ansonsten scheint sie geschlossen zu sein. Ich frage trotzdem und bekomme meinen Kaffee und meinen Orangensaft. Heute habe ich mir das Stichwort „Erinnerungen" vorgenommen. Ein Satz von J. Krishnamurti will mir nicht einfallen und so formuliere ich für mich, was ich behalten habe: Wenn die Erinnerung verarbeitet ist, hebt sie sich selber auf.
Ich beglückwünsche mich zu meiner Entscheidung, ein Stück Camino retour zu gehen, die schönen Erlebnisse nicht mehr nur als Anekdoten, sondern als Gefühl zu speichern, ein Gefühl, das mir eine positive Lebenseinstellung leichter macht, ein Gefühl, das mir täglich neue Kraft gibt.
Heute habe ich den zweiten kompletten Regenbogen auf diesem Camino gesehen. Für das Foto war ich zu dicht dran, darauf ist er nun gestückelt zu sehen. Doch vielleicht wird mein PC es zu Hause richten und die Bilder zusammensetzten. Ein Bauer ruft nach mir, schickt mich auf den richtigen Weg, erklärt mir noch die nächsten paar Abzweigungen und ich bin erstaunt, wie gut mein passives Spanisch geworden ist. Ab und zu kommt mir ein Pilger entgegen, also bin ich richtig. Kurz nach einer Weggabelung frage ich lieber wieder und hätte sonst mit Sicherheit wieder den falschen Weg genommen. Das Stück zurück macht mir nichts aus. Es fängt an, aus Kübeln zu schütten, eine Kirche taucht auf - dreimal klopfen. Dann eine private Herberge, auch geschlossen, aber um die Ecke ein überdachter Sitzplatz. Ich lausche dem Regen und freue mich, hier sein zu dürfen. Regensachen anziehen - werde ich je die Minuten im Torbogen von Pamplona vergessen, wenn ich zu meiner Regenhose greife? Na ja, „Erinnerungen" sind ja mein Tagesthema.
Mal findet sich der ausgeschilderte Camino, mal gehe ich einfach meinen Camino nach Palas de Rei. Gegen 14:00 Uhr bin ich da, kaufe vier Orangen, hole mir den Stempel in der Herberge und beschließe weiterzugehen. Die nächste Herberge ist neun Kilometer entfernt und ich möchte den spanischen Friseur nicht in Versuchung bringen, sein Verbrechen vom Sommer an mir und meinen Haaren zu wiederholen. Ich präge mir Areixe und Ligonde als nächste Zwischenziele ein. An diese Orte habe ich keine Erinnerung - oder kann ich sie nur noch nicht zuordnen? Die Bar für diese Mittagspause ist gemütlich, ich bin versucht, ein Menü für acht Euro zu bestellen, denke aber noch rechtzeitig daran, dass ich mit vollem Magen schlecht laufen kann und bleibe bei Kaffee und Orangensaft. Heute Morgen mir und meinen Füßen meine beiden ersten Blasenpflaster zu gönnen, war eine prima Investition. Auf dem letzten Camino habe ich sie ja nur für andere Pilger herumgetragen und mein Vorrat ist jetzt mit der baugleichen Schachtel von Katharina zusammengeführt worden, die 2008 schon La Gomera gesehen hat. Erinnerungen - schöne - selbst beim Blasenpflaster.
Kommt auch noch die Zeit für mich, wo ich auch ohne Erinnerungen einfach nur so im „Hier" und „Jetzt" glücklich sein kann? Doch es ist für mich vollkommen in Ordnung, dass mich die Augenblicke „Hier" und „Jetzt" über den Umweg der schönen Erinnerungen froh machen. Hat mein Glücklich-Sein etwas damit zu tun, dass ich mich mittlerweile traue, eine Bar zu betreten und direkt wieder zu verlassen, wenn ich mich nicht wohl fühle? Ist das Egoismus oder Auf-mich-Achten? Ich muss Sebastian noch einmal fragen, wie das mit der Theorie „Nur ich existiere - der Rest ist Einbildung" ist.
Ein Jeep hält mitten auf dem Weg direkt vor mir, drei Männer springen heraus, greifen sich eine Hacke. Während der eine eine Furche in den Weg macht, begutachten die anderen beiden sein Werk mit den Händen in den Taschen -Teamwork - und ich taste mich an dem Jeep vorbei, der den Weg ausfüllt. Das Heilige Jahr ist angebrochen, der Weg wird bereitet. Den ganzen Nachmittag über ist der Weg gut zu finden, nachdem ich mich erst einmal aus Palas de Rei hinausgefragt habe. Es geht meist an einer kleinen Landstraße auf einem Schotterstreifen entlang. Ich begegne einigen Pilgern, oft nur ein „¡Buen Camino!", manchmal ein paar Worte, mit einer Flämin eine kurze Unterhaltung, bevor sie ihrem Mitpilger nacheilt - aber immer ein Lächeln. Ich komme bei einer Herberge an, es ist noch keine fünf, also eine kurze Pause und dann weiter zur nächsten Herberge - noch fünf Kilometer. Ein wunderbarer Abendspaziergang, der Weg einfach zu finden, die Sonne geht rechter Hand unter, die Wolken wie gemalt am Himmel. Ein Hecheln von hinten - ein Hund kommt an mir vorbeigelaufen, biegt in den nächsten Feldweg ein, wartet da auf mich. Schon einige Hunde haben mich auf dem Camino nicht mehr angebellt. War das schon immer so und habe ich es nur nicht bemerkt? Egal - ich freue mich über jeden Hund, der mich nicht anbellt. Ich komme an einer Kirche vorbei, klopfe dreimal an. Dann frage ich zur Sicherheit noch einmal nach meinem Zielort Ventas de Narón und bekomme die Auskunft: noch einen Kilometer. Die Viertelstunde ist um, ich bin durch den Ort durch, sehe aber keine Herberge. Also stoppe ich das nächste Auto, frage und bekomme den Weg erklärt - in meine Richtung ist halt alles nicht so recht ausgeschildert. Dafür kann ich mich über viele Muschelkacheln freuen, die in meine Richtung weisen. Im Sommer habe ich diese belächelt. Der ein oder andere hat beim Anbringen der Fliesen auch an die Pilger auf dem Weg zurück gedacht. Doch gedacht ist es so, dass die Strahlen der Muschel die Wege sind, die nach Santiago führen.
Meine Gedanken schweifen in die nahe Zukunft: Im Sommer heiraten zwei meiner Jungs, und schon seit ich das erfahren habe, gehen mir ab und zu Gedanken zur fälligen Hochzeitsrede durch den Kopf. Müsste ich sie jetzt halten, hätte ich die passenden Worte parat - denn im Augenblick passt einfach alles.
Für 4,40 Euro habe ich meine Wäsche der Waschmaschine anvertraut, denn für eine Handwäsche bin ich heute zu faul. Mal sehen, ob dieses Abenteuer auch klappt. In der Herberge sind bisher außer mir noch zwei Spanier, im nahe gelegenen Restaurant bin ich alleine. Ich suche mir für morgen die nächste Herberge heraus, schreibe mir die Orte und Entfernungen auf die Rückseite des Bono Albergue und bin so bestens gerüstet. Wenn ich bei meinem jetzigen Tempo bleibe, bin ich in sechs Tagen in Astorga. Mal hören, wie die Meinung zu Hause dazu ist. Ein Abschiedsessen von meiner Pilgerfahrt im Restaurant des Hotels „Gaudi" in Astorga - das finde ich passend. Heute ist ein Tag, an dem ich mich traue zu planen, oder soll ich sagen, meine Träume in Worte zu fassen, sie mir selbst zu gestehen, sie zuzulassen? Der Traum des Tages ist: Haustür zu, zur Messe nach Santiago, Haustür wieder auf - und das alles in dem Tempo, das Gott mir mitgegeben hat. Wenn ich umzöge in die Gegend, aus der Andrea kommt, dann wäre das ein Trip von sieben Tagen. Und schon habe ich einen Gedankensprung zum Thema Sprachen. Andrea hat sich letztens so gefreut, dass jeden Tag ein bisschen mehr Spanisch aus mir herauskam. Hat sich der gordische Knoten meines Sprachzentrums - die in der Kindheit gelegte Angst vor Sprachen - von selbst gelöst? Wie der Knoten entstanden ist - müßig nachzugrübeln. Muss ich deshalb nach Astorga wollen? Ich habe dort im Sommer die Schwester meines Wörterbuches unbenutzt nach 545 Kilometern zurückgelassen. So viele Pilger konnten Englisch oder Deutsch und dazu auch noch Spanisch, sodass ich mich bequem zurücklehnen konnte. Zurücklehnen ist ab und an o.k., geht jedoch auf den Rücken, wie mir Thomas heute beim Frühstück eindrücklich geschildert hat: Sein Bundeswehrrucksack hat keinen Bauchgurt und so läuft er gezwungenermaßen permanent angestrengt „zurückgelehnt".
Als ich um Viertel vor neun in die Herberge zurückkomme, ist meine Waschmaschine durch, das Abenteuer des Trockners spare ich mir. Die beiden Spanier liegen im Dunkeln im Zimmer. Sie sind per Rad von León aus unterwegs und wollen Freitag in Santiago ankommen. Die 81 Kilometer bin ich zu Fuß in zweieinhalb Tagen gegangen, sie haben die per Rad vor sich - sie haben Urlaub, ist ihr Kommentar, eine gute Einstellung. Da wir nur zu dritt im Raum sind, kann ich meine Wäsche zum Trocknen an x Bettgestelle hängen. Die perfekt ausgestattete Küche hat nur einen Nachteil, alle Schränke, alles Spitzenklasse 1A, sind bis auf zwei Schrauben leer. Aus meinem Kaffee morgen früh wird nichts mangels Topf und Tasse – ist doch noch eine Ergänzung der Packliste fällig?