Für eine Übernachtung im Mannschaftsraum der Feuerwehr habe ich ruhig schlafen können. Erst kurz nach 8:00 Uhr mache ich mich auf den Weg. Die Schleife bis zur Kathedrale spare ich mir, da war ich gestern schon. Heute finde ich den ersten gelben Pfeil bei der Igreja do Carmo. Ich habe das gestern bei meinem abendlichen Stadtrundgang schon ausgekundschaftet. Innen ist die Kirche mit vielen Seitenaltären prunkvoll ausgestattet. Ich denke an Mariannes Worte: „Wenn ich in eine Kirche gehe, setze ich mich eine Weile und versuche mir vorzustellen, was die Menschen, die diese Kirche gebaut haben, sich dabei wohl gedacht haben. Und auch die Menschen, die seitdem bis heute darin gebetet haben." Es fällt mir schwer, diese prunkvolle, gut erhaltene Kirche neben den vielen halbverfallenen Häusern von Porto zu ertragen. Ich gehe weiter durch die am sonntäglichen Morgen ausgestorbene Stadt. An einer Kapelle strömen die Menschen aus der Kirche. Diese Kapelle ist mit den für diese Gegend typischen blauweißen Kacheln gefliest. Die Schlichtheit der Kapelle passt besser zu meiner Stimmung oder sind es die Menschen, die dieses Gebäude gerade zum Leben erweckt haben?
Nach einer Stunde Marsch aus der Stadt hinaus der erste Café solo und ich merke etwas: Erinnerungen verändern die Wirklichkeit. Dieses Café ist in meiner Erinnerung vom Camino des letzten Jahres viel größer gewesen.
Die Igreja do Carvalhido, eine wunderschöne blauweiß gekachelte Kirche ist leider geschlossen. Es geht endlos immer geradeaus die Straße entlang. Rechter Hand eine schöne Kapelle, leider ist auch sie verschlossen. Irgendwann ist Zeit für einen zweiten Café solo und der Anorak darf auch in den Rucksack. Es ist warm geworden über Mittag. Da ich im Winter kaum gelaufen bin und zudem auch noch „angespeckt" habe, will ich heute nur eine kleine Etappe bis Campos Verdes gehen. Dann laufe ich aber doch weiter und lande in einer kleinen Pension in Vilardo Pinheiro. Als ich den Kulturbeutel ausschütte, meldet sich mein Taschenmesser und ein Stein für das Cruz de Ferro. Welcher Kobold hat diese Sachen hierhergezaubert? Doch allein der Glaube, beide Steine wären zu Hause geblieben, hat meine Einstellung zu diesem Brauch geändert. Ich muss nicht mehr jedes Mal zum Cruz de Ferro gehen, wenn ich Last abwerfen möchte, ich kann das an jedem Ort der Welt tun. Doch diesem Brauch auf meiner ersten Pilgerfahrt nachgekommen zu sein, hat mir gutgetan und es war ein wichtiger Schritt auf meinem Weg, mit meinen Lasten umzugehen.
Nach dem Pflichtprogramm ist Zeit für eine verspätete Siesta. Die Klimaanlage macht einen Höllenlärm, eine Heizung wäre mir lieber. Ich habe heute über Tage nur Kaffee getrunken und das Wasser brav mitgeschleppt. Mein Körper beschwert sich jetzt. Katharinas trockener Kommentar am Telefon ist nur: „Wenn Du unterwegs schon trinkst, wird der Rucksack auch noch leichter." Das Restaurant, das ich mir beim Schwenk in diesen Ort ausgesucht habe, ist jetzt geschlossen. Also lande ich in einer Bäckerei und bekomme ein warmes Sandwich. Das reicht auch heute nach dem opulenten Mahl gestern in Porto. Die fehlende Lesebrille macht das Lesen im Führer zum Ratespiel und doch habe ich das Gefühl, meine Augen gewöhnen sich daran und mein Arm ist lang genug, das Buch zu halten. Ich berechne die Etappen: 10,7 Kilometer + 11,7 Kilometer - 2,4 Kilometer, die ich heute weiter gelaufen bin. Großzügig ermittle ich zwanzig Kilometer für die morgige Etappe. Das wird trotz meines untrainierten Zustandes gut möglich sein. Auf Rates freue ich mich schon: der zweifarbige Stempel, der schöne Aufenthaltsraum. Ob noch die CD mit der gregorianischen Musik da ist? Ich lasse mich überraschen. Heute war es teilweise sehr seltsam, durch ein fremdes Land zu laufen, jedoch Vertrautheit zu empfinden, als ich, wie vor einem Jahr, die Pferde auf der Weide vor der Skyline von Porto grasen sah, und die Hausnummer 2010 wiederzufinden, die mich letztes Jahr, weil einfach passend, so beeindruckt hat. Ich schätze den Luxus, den Weg noch einmal gehen zu dürfen. Wer hat schon das Glück, einen einmal beschrittenen Weg noch einmal gehen zu können?
Eine Blume am Wegesrand auf der Etappe Porto → Vilar do Pinheiro