Im Hotel gibt es schon um 7:00 Uhr Frühstück mit Orangensaft, starkem Kaffee, Brötchen etc., mit allem, was mein Pilgerherz begehrt. Nur zweimal muss ich nachfragen und ich habe den Pilgerweg wiedergefunden, denn den Schlenker zurück zum Schild, an dem ich ihn gestern verlassen habe, möchte ich mir sparen. Dann geht es an einer viel befahrenen Nationalstraße ohne Seitenstreifen entlang. Rechts und links wird die Straße häufig durch hohe Mauern begrenzt. Oft drücke ich mich dicht an diese Mauern, um möglichst wenig Angriffsfläche für die Lastwagen zu bieten. Mein Verstand meldet sich: „Warum bist Du hier?" Mein Bauch tut sich mit der Antwort schwer: „Weil es mir guttut." In Vilarinho bin ich schon kurz vor zehn Uhr und genieße einen Café solo und einen Organgensaft. Bis Rates sind es noch 11,7 Kilometer und bei meinem Schneckentempo heute wird das fast vier Stunden ohne Pausen dauern. Doch ich bin ja früh losgegangen, habe also Zeit genug. Das leise Ziepen meines Körpers kann ich ausgleichen, indem ich mal mit, mal ohne Stock gehe, den Rucksack mal nach links, mal nach rechts schwenke und so das Ziepen nie zu einem Schmerz werden lasse. Im Ort ist Markt und so kann ich zwischen drei Obstständen wählen und mir zwei Bananen als Picknick aussuchen. Aus dem Ort hinaus geht es erst einmal noch die Straße entlang, aber jetzt auf einem Bürgersteig. Dann biegt der Weg rechts ab und ich gehe über die Ponte do Ave, eine alte Steinbrücke mit vielen Bögen. Die Kapelle rechts im nächsten Ort ist wieder geschlossen. Hinaus aus dem Wald läuft der Weg erneut an der Straße entlang. Ich mache mein Picknick wenig stilvoll auf einem Mäuerchen an einem kleinen Industriegebiet. Die Wanderwege durch den Wald oder an der Landstraße entlang wechseln sich ab. Alle Kirchen und Kapellen rechts und links vom Weg sind geschlossen. Dafür entschädigt mich das Rauschen der Blätter im sanften Wind und das Gezwitscher der Vögel. Das Laufen geht automatisch, der Kopf ist wunderbar leer von allen Gedanken. Früher als ich es vermutet habe, taucht Rates auf, die Kirche ist offen. Sie ist äußerst schlicht, doch gerade das gefällt mir. In der Kirche ist es feucht und kalt und so halte ich es nicht lange genug in ihr aus, um zu erahnen, was die Menschen, die sie erbaut haben und die seitdem in ihr beten, empfunden haben mögen. Mich zieht es in die Sonne und vor einer Bar mache ich eine ausgiebige Pause. Es freut mich, dass ich bei einer Gruppe Frauen als Engländer durchgehe, weil ich auf die Frage „Do you speak English?" wahrheitsgemäß mit „Yes" antworte und mir den Nachsatz „But I'm German" spare. Es ist herrlich, die Nase in die wärmende Februarsonne zu strecken und den Tag Revue passieren zu lassen. Ich weiß, warum ich hier bin, weiß, dass auch das An-die-Mauer-Drücken, um von den Lastwagen nicht platt gefahren zu werden, dazugehört. Das ist der Unterschied zum Wandern auf landschaftlich traumhaften Routen. Beim Pilgern ist es wie im richtigen Leben – von allem etwas. Ich habe erkundet: Es ist erst kurz nach 14:00 Uhr. Der Laden, in dem ich den Herbergsschlüssel und den zweifarbigen Stempel bekommen kann, wird noch Mittagspause haben. Ich schalte also alle Gedanken ab (eben wollten sich alle meine privaten Baustellen melden) und konzentriere mich einfach aufs Wohlfühlen und das Sonnen. Was ist noch wichtig auf diesem Camino? Für Kirstin eine Kerze und das Fliegenpilzteelicht von Monika für diese anzünden und meine Verabredung mit Andrea in Tui. Ich merke, dass ich mich zu Hause fühle auf diesem Camino. Er ist mir vertraut und vor allem habe ich die Ruhe, den Augenblick zu genießen.
Nach der ausgiebigen Pause ist ein zweiter Besuch in der romanischen Kirche angesagt. Ich erahne etwas von der Zwiesprache, die Gläubige hier mit ihrem Gott gehalten haben, und dem Trost, den sie empfangen haben.
Dann mache ich mich die 600 Meter auf den Weg zur Herberge, kaufe im Lädchen gegenüber Picknick für morgen. Ich bekomme den Weg zum Bäcker erklärt, richte mich in der Herberge häuslich ein und setze mich im Hof in die Sonne. Zur Feier des Tages entzünde ich das Fliegenpilzteelicht zu Monikas Ehren. Bis zum Abendessen habe ich noch viel Zeit und so zücke ich das „Peace"-Buch, das ich von Michelle für meinen Camino im Januar letzten Jahres bekommen habe. Seit dem Jakobsweg im September habe ich nicht mehr darin gelesen. Es ist halt mein Camino-Buch. Und es geht auch ohne Lesebrille ganz gut. Ich plane den morgigen Tag. Bis Barcelos sind es nur 15,5 Kilometer und 9,3 Kilometer weiter in Portela de Tamel soll es eine neue Herberge geben. Ich bin mittlerweile gut eingelaufen und so sollten die 25 Kilometer kein Problem darstellen. Vor allem bleibe ich beim Laufen warm. Als ich mich gerade auf den Weg zum Abendessen mache, kommt eine Pilgerin aus Thailand an. Sie ist auf dem Weg nach Fátima. Sie ist den Camino Francés gegangen und hat in Finisterre einen Monat Pause gemacht. Sie genießt es sichtlich, so viel Zeit zu haben. In der Bar erwartet mich ein gutes und reichhaltiges Pilgermenü und ein äußerst freundlicher Wirt. Das Gästebuch für Pilger ist interessant zu lesen. Zwei riesige Fernseher buhlen um die Gunst der Gäste. Mir helfen sie dabei, mich in die portugiesische Sprache hineinzuhören. Als ich wieder in die Herberge komme, sind noch drei andere Pilger da, zwei mit Hund. Gut, dass der Schlüssel Raum drei öffnet und die beiden mit ihren Hunden dort nächtigen können. An sich sind Hunde in Herbergen nicht erlaubt, doch die beiden haben mich so höflich gefragt, dass ich nicht Nein sagen konnte, und so stören sie mich auch nicht.
Sonnenuhr auf der Etappe Vilar do Pinheiro → São Pedro de Rates