Gegen acht Uhr stehe ich auf. Ich muss den Rucksack dreimal packen, denn ich habe vergessen, den Fotoapparat herauszunehmen und die Badelatschen hineinzutun. In der Küche ist mir zu viel Trubel und so entschließe ich mich, meinen Café solo und Orangensaft in der nahe gelegenen Bäckerei zu nehmen. In den letzten Tagen habe ich mir irgendwo einen leichten Husten eingefangen, wahrscheinlich bei der Übernachtung im Mannschaftsraum der Feuerwehr in Porto. Kurz vor neun Uhr geht es los. Fit sein ist anders. Doch ich habe viel Ruhe in mir. Gestern las ich im „Peace"-Büchlein einen Abschnitt über den Umgang mit Ärger. So wird es mir bewusst, dass ich mich über den Lärm einer Motorsäge ärgere, die die malerische Stille durchbricht. Doch nur so lange ist der Ärger da, wie ich die Motorsäge höre. Genauso geht es mir mit dem penetranten Bellen eines Hundes, aus den Ohren, aus dem Sinn. Ich habe mich verändert. Früher habe ich mir einen Ärger immer so lange aufgehoben, bis endlich der nächste da war. Heute kann ich auch ohne Ärger prima leben.
Letztes Jahr habe ich mir meine Pilgerfreunde als Begleiter auf dem Weg gedacht: Nina als Licht, Michelle als Lächeln der Blumen usw.. Dieses Jahr kann ich den Weg einfach so gehen, ohne zu denken, ohne von meinen Pilgerfreunden indirekt umgeben und geschützt zu sein. Ich genieße dieses Gefühl, einfach nur zu sein.
Um 10:30 Uhr gestatte ich mir einen Schlenker weg vom Weg zu einer ausgeschilderten Bar. Freundlich wird mir ein Stempel für den Pilgerpass angeboten. Ich sammle die Stempel von Bars eigentlich nicht, da gestern aber so viele Kirchen geschlossen hatten, ist das vielleicht der Ausgleich. Und so habe ich eine Erinnerung an diese schöne Bar im Pilgerpass. Der Weg ist abwechslungsreich, mal durch Feld und Wald, mal an der Straße entlang. Ich habe mir ausgesucht, ihn zu gehen, und so versuche ich nicht zu bewerten, ob er schön oder weniger schön ist, ich gehe ihn einfach. Ich lasse den Blick schweifen, freue mich hier über eine Blume oder darüber, wie die Sonne durch die Bäume strahlt. Hier und da kräht ein Hahn und ich höre Vögel zwitschern. Ich bin ganz im Augenblick, nehme wahr, lasse auf mich einwirken.
Die erste offene Kirche an diesem Tag ist in Carvalhal. Mein Bauch will verweilen, doch mein Verstand befiehlt: „Weiter!", denn es ist feucht und kalt in der Kirche und das sollte ich meinem noch schwachen Husten nicht antun. Bald kommt die Kapelle Santa Cruz. Vor ihr auf einem Steinmäuerchen halte ich mein Mittagspicknick in der Sonne. Ich entdecke, dass sich Badelatschen auch wunderbar als Sitzkissen eignen. In Barcelos bin ich um 13:30 Uhr, gönne mir in der Kirche Bom Jesus da Cruz einen ausgiebigen Rundgang. Zum Hinsetzen ist es mir wieder zu kalt – schade. Es hat angefangen, leicht zu regnen, und so gönne ich mir einen Café solo und einen Orangensaft im nächsten Café. Trotz Regens will ich die knapp zehn Kilometer bis Portela de Tamel noch heute gehen. Ausgiebige Pausen und mein Schneckentempo eingerechnet, werde ich gegen 17:00 Uhr dort sein. Das ist früh genug. Ich befestige den linken Stock am Rucksack und mache den Regenschirm parat. Der geänderte Bewegungsablauf wird meinem „Fahrgestell" guttun, denn ein bisschen meldet sich die Hüfte und ein Knie. Die Entscheidung, keine Regenhose anzuziehen, ist auch richtig, denn es hört zwischenzeitlich immer mal wieder auf zu regnen. Irgendwann komme ich an der Herberge an. Auf die Uhr schaue ich nicht, denn ich bin ja da und werde von dem Hospitalero herzlich auf Englisch willkommen geheißen. Er trägt mir sogar meinen Rucksack ins Zimmer. Das ist auf dem Camino bisher nur in Rabanal vorgekommen. Das Restaurant gegenüber ist geschlossen. Der Hospitalero schickt mich 400 Meter weiter zu einer Fruteria und einer Bar. In der Fruteria decke ich mich ein, die Bar ist geschlossen. Ihm ist das auch aufgefallen, denn er kommt mir mit dem Auto nach und bietet mir an, mich zu einer Pizzeria zu fahren. Autofahren habe ich nicht auf dem Plan und so bleibt es heute Abend bei bescheidenem Brot und Wein. Ich bleibe wohl der einzige Pilger in der Herberge. Ein nettes Gespräch mit dem Hospitalero Carlos über das Pilgern schließt sich an. Wir sind uns schnell einig: Das Pilgern tut gut, aber man kann kaum erklären, warum. Es ist der Luxus der Langsamkeit. Es ist, den Weg zu gehen, der gerade dran ist, egal, wie er beschaffen ist. Es ist, den eigenen Rhythmus zu finden, ohne Rücksicht auf jemand anderen nehmen zu müssen. Es ist... Es ist der Weg zu sich – sei es religiös, spirituell, mental, sportlich.
Dann lasse ich mich vom frei zugänglichen Internet-PC verführen. Gut, dass ich vorgesorgt und keine Passworte für meine E-Mail-Accounts mitgenommen habe. Auch das Update meiner eigenen Homepage scheitert am fehlenden Passwort. Und so bleibt es beim Wetter, für das ich sowieso entsprechend ausgerüstet bin. Ich weiß es, habe es mir jedoch gerade noch einmal bewiesen, ich brauche das Internet auf meinem Camino nicht, denn es ändert sich nichts durch die Information, die ich erhalte.
Um 20:15 Uhr ist es besiegelt, Carlos verabschiedet sich und ich habe die 35-Betten-Herberge für mich alleine. Besser konnte ich es wirklich nicht antreffen.
Wegmarkierung auf der Etappe São Pedro de Rates → Portela de Tamel