Die erste Frage des Tages ist: Regenhose oder keine? Ich genieße es, ohne Rücksicht auf andere Pilger meine Sachen malerisch im ganzen Zimmer verteilt zu haben. Meine Wäsche ist über Nacht wieder nicht trocken geworden. Ob sie es tagsüber am Rucksack schafft, ist auch fraglich, denn ich werde dem Rucksack den Regenüberzug gönnen. Um 6:00 Uhr hat die direkt neben der Herberge stehende Kirche mit ihrem Lautsprechergeläut begonnen. Doch ich bin früh ins Bett gegangen und so stehe ich jetzt auch früh auf. Bis Ponte de Lima sind es 24,3 Kilometer, also ungefähr genau so weit wie die Etappe gestern. Und so lasse ich mir in der Herberge Zeit zum Frühstück, Zeit, um in Ruhe zu packen. Als ich losgehe, regnet es gerade einmal nicht. Die Kirche gibt die Uhrzeit: 8:30 Uhr. Der Weg ist ruhig und schön, die Entscheidung für Schirm und gegen Regenhose auch genau richtig. Es geht auf Nebenstraßen und Feldwegen an vielen Orten vorbei. Malerische alte Brücken überspannen die Flüsse. Gerade als mir nach einem Café solo zumute ist, taucht an einer Weggabelung das Schild einer Taberna auf. Den Umweg von zweimal 300 Metern ist der Kaffee wert. Die Uhr in der Bar zeigt mir noch die Zeit an: 11:00 Uhr. Sogar den Ortsnamen finde ich im Führer, die Hälfte der Tagesetappe ist geschafft. Auch der Wirt kommt auf zwölf Kilometer bis Ponte de Lima. Jetzt bleibt die einzige offene Frage, ob es mein Hemd am Rucksack schafft, in den nächsten Stunden trocken zu werden, denn ich habe nur zwei Hemden dabei.
Am Nachmittag macht der Regen selten Pause. So spule ich meinen Weg ab und meine Sicht ist eingeengt durch den Regenschirm. Ich komme mir vor, als ob ich mit Scheuklappen durch die Landschaft ziehe. Linker Hand ein mächtiges Zwitschern. Ein riesiger Vogelschwarm hat sich auf den Bäumen und Hochspannungsleitungen niedergelassen und wechselt mit hörbarem Flügelbrausen die Standorte. Rechter Hand taucht eine Kapelle auf, eine kleine „Veranda" ist überdacht und so mache ich auf dem Mäuerchen meine Pause. Müßig zu sagen, dass die Kapelle leider geschlossen ist. Gefühlte drei Kilometer später ist dagegen eine Bar offen. Café solo, Orangensaft, Uhrzeit (13:40 Uhr) und Entfernung bis Ponte de Lima (drei Kilometer) bekomme ich hier und kann etwas trocknen.
Als die Kirchenglocken drei Uhr schlagen, sehe ich Ponte de Lima vor mir liegen. Den Weg zur Herberge habe ich gut in Erinnerung. Ich finde sie, jedoch ist sie noch geschlossen. Man macht hier erst um 16:00 Uhr auf. Also zurück über die schöne 277 Meter lange Brücke in die Stadt zu einem Café solo und Orangensaft. Ich bin zufrieden, wie gut mein Körper diese Pilgerfahrt bisher mitmacht, bin zufrieden, so wenige Gedanken nach hinten und vorne zu richten und einfach nur im Hier und Jetzt zu sein. Und es ist schön, sich in einer fremden Stadt heimisch zu fühlen. Dabei war ich letztes Jahr nur ein paar Abendstunden hier. Vielleicht liegt es einfach nur daran, dass ich mich heute so gut auf den Augenblick einlassen kann. Beim Pflichtprogramm in der Herberge merke ich, dass ich mein Haarwaschmittel in der letzten Herberge vergessen habe. Im Supermarkt gibt es Ersatz, allerdings in der normalen Größe, also 200 Gramm Zuladung gegenüber meiner vergessenen Miniflasche. Bei der Restaurantauswahl lasse ich mir Zeit und verlasse mich nicht auf den Führer, sondern nehme die Lokalitäten kritisch in Augenschein. Gestern hatte ich nur Picknick in der Herberge, morgen wahrscheinlich auch, denn ich kenne die Herberge, die „in the middle of nowhere" liegt. Doch ein paar hundert Meter weiter gibt es einen urigen Supermercado, jedenfalls war das letztes Jahr so. Also ist heute die „Ich-gönne-mir-was"- Variante dran. Eine Stunde habe ich noch Zeit, bis das Restaurant meiner Wahl öffnet. Zeit für einen Abschnitt im „Peace"-Buch. Heute verbinde ich Peace mit Willy Brandt. Ich bin geprägt von seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin. Die Gedanken an Berlin kommen bei mir immer, wenn ich über meine Heimat nachdenke. Als Jugendlicher habe ich es seinerzeit so formuliert: „Ich fühle mich als Berliner und dann als Europäer." Was fühle ich heute? Aus dem Berliner ist ein Wahlscheider geworden, der Europäer ist geblieben. Auch wenn ich sehe, was noch alles im Denken der Menschen geschehen muss, so sehe ich doch die riesigen Schritte in Richtung Frieden, die ich während meines Lebens in Europa erleben konnte. Mein Vater hat zwei Weltkriege überleben dürfen. Er hat mich zu einem waschechten Pazifisten erzogen. Ein Lächeln ist die stärkste Waffe.
In der Bar, in der ich bis 19:00 Uhr warte, um mein Restaurant aufzusuchen, wetteifern wieder zwei Fernseher und ich merke, dass ich die Sprache zwar immer noch nicht kann, doch verstehe, worum es geht. Mir fällt ein, dass ich einmal von meinen japanischen Chefs bei einem Meeting in Japan zur Ordnung gerufen wurde, weil ich nicht die Übersetzung vom Japanischen ins Englische abgewartet hatte. Und so korrigiere ich meine Aussage, dass ich zwei Sprachen verstehe, zu drei Sprachen: die „body language" kann ich auch, sprechen und verstehen. Was mich wieder zum Ausgangspunkt bringt: Wenn die body language „Frieden" spricht, ist Frieden. Step by Step.
Mir fällt Anna vom Camino Francés ein, die in der Zwischenzeit in Afghanistan und im Irak war und jetzt in Israel ist. Und ich glaube, dass andere Wege gefunden werden sollten, Frieden zu schaffen und zu sichern, als mit Waffen. Willy Brandt hat mit seinem Kniefall einen Weg aufgezeigt.
Doch zurück zu den wichtigen Dingen des Pilgeralltages: Ich habe wieder zu wenig Wasser getrunken, obwohl ich es mit mir herumgeschleppt habe. Im Restaurant meiner Wahl angekommen, werde ich kurze Zeit später vom Kellner in Deutsch angesprochen. Ich müsste mich freuen, doch ich war in Gedanken gerade so gut europäisch unterwegs. Aber ist es nicht gerade das: in Ponte de Lima auf Deutsch angesprochen zu werden? Wie kann man das zusammengewachsene Europa besser beschreiben?
Beim Hauptgang fällt mir auf, ich habe die Restaurantsuche gar nicht mit „Ineke-Time" benannt. Das ist ein gutes Zeichen. Meine Freunde sind sowieso immer bei mir, und mir das beste Restaurant am Platze auszusuchen und zu gönnen, schaffe ich mittlerweile auch alleine. Doch ich werde nie vergessen, dass ich das von Ineke gelernt habe.
In der Herberge angekommen, bin ich noch immer der einzige Pilger dieser Nacht. Allen Pilgerwilligen, die Angst vor überfüllten Herbergen haben, sei diese Jahreszeit empfohlen.
Brücke in Ponte de Lima auf der Etappe Portela de Tamel → Ponte de Lima