Wieder bin ich in der Herberge allein, was mir guttut. Die Herberge hat keine Küche und man muss sie um acht Uhr morgens verlassen haben. Also habe ich kein Picknick für den Morgen eingekauft, sondern suche die erste offene Bar auf. Ich bekomme frisch gepressten Orangensaft. Als ich den Pilgerführer lese, kommt mir die Idee, heute gleich bis Redondela durchzulaufen. In O Porriño und Mos kann ich diese Entscheidung ja noch einmal überprüfen, denn dort sind auch Herbergen. Es ist heute ein kühler, trüber Tag, genau das richtige Wetter für einen 30-Kilometer-Marsch. Der Weg ist schön. Er geht zwar einmal lange an der Straße entlang, die ist aber an diesem Morgen kaum befahren und es ist ein roter Seitenstreifen als Fußweg markiert. Genau zur richtigen Zeit tauchen Hinweisschilder für eine Bar auf. Mindestens sieben Stück zähle ich auf dem nächsten Kilometer. Das so toll angepriesene Freizeitzentrum mit Bar ist geschlossen. Ein paar Schritte weiter dann hätte ich beinahe die schöne, kleine Bar übersehen, denn sie hat kein Hinweisschild. Es ist Viertel vor elf, ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Es wird schon passen. Ich habe ja für heute drei Optionen als Herberge und die Sicherheit, mir ein Hotel nehmen zu können, ist auch noch da. Um 12:30 Uhr bin ich in O Porriño. Zwei offene Kirchen direkt nacheinander entschädigen für die letzten Kilometer durch das Industriegebiet und die Einfallstraße in den Ort. Endlich einmal nicht nur die Diodenkerzen, sondern man kann echte Kerzen anzünden, und ich denke an mein Versprechen an Kirstin und zünde eine Kerze nur für sie an. Bei der Bar kann ich wählerisch sein. Auf meinem Einkaufszettel stehen Briefmarken, denn die Postkarten trage ich schon seit Portugal mit mir herum. Eine Teilentscheidung über den Zielort für heute ist auch gefallen. Es geht mindestens die 5,3 Kilometer weiter bis Mos. Dort treffe ich kurz nach 14:00 Uhr ein. Die Herberge sieht zwar sehr gepflegt aus, doch der Ort ist winzig. Was soll ich hier den ganzen Nachmittag und Abend mit mir anfangen. Also studiere ich noch einmal den Führer, ja, nur 9,4 Kilometer bis Redondela. Mein Körper stimmt auch zu und so geht es nach dem Stopp für Café solo und Orangensaft weiter. Ich habe das Gefühl, heute geht es nur bergauf. Ich schlendere mittlerweile nur noch in der Jacke durch die schöne galicische Landschaft. Ein Blick seitwärts und nach hinten bestätigen, ich bin in den Bergen. Hoch sind sie wohl nicht, aber urtümlich. Immer ist ein Haus oder ein Strommast im Wege, wenn ich ein Panoramafoto machen will. Ein römischer Meilenstein erinnert daran, dass der Camino hier entlang einer alten Römerstraße verläuft. Ich schwenke zu einer Bar ein, ich erkenne sie vom letzten Jahr wieder. Doch ich habe keine Ahnung, wo sie liegt. Dafür bekomme ich die Zeit: Viertel vor vier. Das genügt mir, denn in Mos habe ich 17:00 Uhr als wahrscheinliche Ankunftszeit in Redondela errechnet. Gut vier Kilometer also noch. Ich bin stolz auf meinen Körper, der jetzt, ohne zu murren, dreißig Kilometer Tagesetappe mitmacht. Ein Herr am Nebentisch fragt mich, ob ich Englisch spreche, ja klar. Er zupft mich am Arm weiter ins Restaurant hinein. Dort sitzt seine Frau, eine Engländerin. Beide sind vor einigen Jahren den Camino zu Pferd geritten. Wir schwärmen uns gegenseitig etwas von unseren Caminos vor. Ein kurzer Schock, als ich von fünf Kilometern spreche und die Frau auf zehn Kilometer bis Redondela erhöht. Ein Mann am Nachbartisch erlöst mich von meinem Schock: Fünf Kilometer sind richtig. Als Ausgleich wird meine Rechnung von den Herrschaften übernommen. Ich lerne, dass die Hochbahn von Redondela von Herrn Eiffel gebaut wurde und er nie sein Honorar bekommen hat, weil die Stadtväter der Meinung waren, dass so etwas nicht halten kann. Meine Pause wird länger als üblich, denn bevor ich weitergehe, muss ich noch eine Runde zur Ruhe kommen. Erst Viertel vor fünf breche ich auf. Neue geplante Ankunftszeit: 18:00 Uhr, doch wer weiß, was der Camino noch an netten Überraschungen zu bieten hat.
Heute – bis jetzt – keine mehr, denn zehn Minuten vor sechs bin ich angekommen. Die Herberge ist so gut und sauber, wie ich sie in Erinnerung habe. Noch bin ich auch hier der einzige Pilger. Das Pflichtprogramm ist auch routinemäßig schnell erledigt und dann braue ich mir in der kleinen Küche meinen Kaffee und setzte mich in die Bibliothek. Heute ist wieder einmal ein Abschnitt im „Peace"-Büchlein dran. Doch erst die Pflichtlektüre, den Führer für morgen. Mal sehen, ob ich wieder eine lange Etappe machen kann. Die dreißig Kilometer heute haben mir gutgetan. Bis Pontevedra sind es nur 17,3 Kilometer, doch die Herberge ist super. Dann 11,7 Kilometer weiter in Portela gibt es die nächste Herberge, die aber hat keine Heizung. Noch einmal 6,4 Kilometer weiter in Briallos, da habe ich letztes Jahr vor verschlossener Tür gestanden, also noch einmal 4,8 Kilometer weiter bis Caldas de Reis? Dort ist es auch unsicher, ob es eine Herberge gibt, der Führer listet Pensionen auf. Ich merke, heute werde ich nicht entscheiden, sondern mich morgen in der Herberge in Pontevedra schlau machen. Doch wenn ich zusammenzähle, sind es bis Caldas de Reis vierzig Kilometer. Das ist auf jeden Fall zu viel. Es hat auch Nachteile, sich auszukennen und vorab im Führer zu lesen. Letztes Jahr bin ich ganz unvorbelastet hier entlanggegangen. Zugegeben, das Wetter hatte da kurze Etappen mit langen Umwegen nötig gemacht. Ich merke, dass mir die abendlichen Gespräche mit anderen Pilgern fehlen. Daher wollte mein Bauch wohl auch so weit, denn drei Pilger sind mir einen Tag voraus. Doch der Camino ist kein Wettrennen, meine Füße alleine entscheiden, wie weit es an einem Tag geht. Und ich lerne wieder einmal: So wie es ist, ist es gut. Das gilt auch heute für das Restaurant. Ich bin fast eine Stunde durch die Stadt gelaufen, um meine Wahl zu treffen. Sie ist pilgergerecht ausgefallen: einfaches Ambiente, gutes und reichhaltiges Essen. Man holt sogar den Koch aus der Küche, weil der am besten Englisch spricht.
Alte Brücke auf der Etappe Tui → Redondela