Um Viertel nach acht breche ich auf. Auch heute Vormittag ist wieder der Regenschirm schützend über mir aufgespannt. Punkt zehn ist eine Bar zur Stelle, der erste Café solo für heute. Auf den Kilometersteinen findet der Countdown statt, bei sechs bin ich derzeit. Weiter geht es, die Kathedrale von Santiago zieht, ich will pünktlich sein. Auf den letzten Metern ist Petrus gnädig und lässt auch einmal die Sonne scheinen. Ich habe genug Zeit, die Compostela im Pilgerbüro abzuholen, und finde im Seitenschiff der Kathedrale in der ersten Reihe einen Platz. Diese Messe wird nur von einem Priester gehalten. Mir gefällt, wie vergleichsweise schlicht es in der Zeremonie abgeht. Die Nonne mit dem schönen Sopran singt auch dieses Jahr wieder. Ich fühle mich zu Hause. Ich bin angekommen, nicht nur in Santiago. Nach der Messe kommt das Thema „Nach Hause, aber wie?" auf. In der Touristeninformation diskutiere ich mit der Dame die Optionen: Flug, Bahn, Bus. Schließlich zeigt sie mir zwei Reisebüros zur Auswahl auf dem Stadtplan. Das eine finde ich leicht, daran bin ich gerade fast vorbeigelaufen, als ich in die Stadt kam bin. Die Dame dort ist nett und der Flug für morgen ist billiger als mein vorgebuchter Rückflug vom Camino Francés im Jahr 2009. Es hätte auch noch heute geklappt, doch was dieser Flug mehr gekostet hätte, investiere ich lieber in ein Hotelzimmer. Jetzt habe ich volle 24 Stunden Zeit für Santiago. Ich bin mir so sicher, in „meinem" Hotel, in dem ich nach dem Camino Francés so gut genächtigt habe, wieder ein Zimmer zu bekommen. Doch als ich dort ankomme, öffnet niemand. Vielleicht ist es in der Nebensaison geschlossen? Also ist der Stadtrundgang verbunden mit einer Hotelsuche. Ich habe ja viel Zeit und notfalls ist da auch noch die Herberge am Monte do Gozo. Also alles kein Problem. Ich genieße die Stadt so, wie man eine Stadt in strömendem Regen genießen kann. Dieses Mal darf ich Souvenirs kaufen. Ich suche eine Bar auf zum Trocknen und um eine Liste zu schreiben. „Zwanzig Kilo plus Handgepäck", hat mir gerade die Dame bei der Travel Agency gesagt. Die Liste wird zusammengestrichen.
Ein gutes Hotel ist gefunden, Souvenirs sind gekauft, Katharina ist informiert, wann ich auf dem Flughafen Köln/Bonn aufschlage. Ein gepflegtes Café gönne ich mir nach all den „Anstrengungen". Mir geht's gut, ich fühle mich in Santiago zu Hause und gleichzeitig freue ich mich auf das Zuhause in Wahlscheid. Die Frage nach dem Zuhause, die heute in der Messe schon einmal im religiösen Sinn hochschwappte, kommt nun auch auf der weltlichen Ebene hoch: Zu Hause bin ich, wo ich mich wohlfühle. Zu Hause bin ich, wo ich Freunde habe.
Ich kann es nicht lassen, noch für weitere fünf Freunde kaufe ich Souvenirs ein, um ein bisschen Santiagofeeling ins Wahlscheider Zuhause zu tragen.
Die Abendmesse gönne ich mir auch noch. Wieder gehe ich nicht zum Abendmahl. Das Erlebnis der zurückgezogenen Oblate in Rabanal letztes Jahr sitzt doch noch tiefer, als ich vermutet habe. Und so bleibt der Gottesdienst für mich unrund, obwohl ich mich in der Kirche heimisch fühle. Vielleicht einigen sich die christlichen Kirchen ja einmal, dass Gläubige anderer „Ausprägungen" des christlichen Glaubens gegenseitig am Abendmahl teilnehmen dürfen. Wenn ich schon nach Santiago gepilgert bin, darf ich mir vielleicht ja auch mal etwas wünschen.
Für das leibliche Wohl finde ich ein schönes Tapas-Restaurant. Der Erfolg des Abends ist: Mein Spanisch reicht aus, ich brauche nicht auf Englisch auszuwählen. Noch ein paar Caminos und ich kann mich perfekt Spanisch unterhalten. Doch zunächst ist ein deutscher Weg geplant: Im Mai will ich von Schengen nach Wahlscheid gehen. Für September ist wieder ein spanischer Weg auf der Wunschliste: der Camino del Norte oder der Camino Primitivo. Eins ist auf jeden Fall klar: Ob Camino, Jakobsweg, Via Francigena oder Fernwandern, ich werde mich wieder aufmachen.
Ich habe vom ersten Camino noch in Erinnerung, wie schwer es ist, sich danach zu Hause wieder in den Alltag hineinzufinden, besonders, wenn man die Rückreise mit dem schnellen Flug antritt. Und so stimme ich mich auf der abendlichen Abschiedsrunde durch Santiago langsam auf den Alltag in der Heimat ein. Ich bin diesen Camino in nur elf Tagen gegangen, doch ich war in diesen elf Tagen in einer anderen Welt, nicht nur räumlich. Ich war in der Welt der Peregrinos. Heute Abend in Santiago bin ich in der Welt der Spanier.
Die Kathedrale in Santiago de Compostela auf der Etappe Teo → Santiago