Um 7:00 Uhr schon verlasse ich das Hotel. Heute Nacht habe ich gut und reichlich geschlafen. Es wird langsam hell und so schaffe ich es, Santiago ohne Umwege zu verlassen. Obwohl ich eine geöffnete Bar sehe, habe ich keine Lust auf einen Kaffee. Erst einmal will ich mich warmlaufen. Punkt 10:00 Uhr sitze ich vor einem Schokocroissant, einem Café con leche und einem Mineralwasser. Eben hat mich einen Anruf von Sonhild erreicht: Wilmas und Marias Bruder Karl ist gestern verstorben und wird am Donnerstag beerdigt. Der Tod ist auf diesem Camino für mich also weiter ein Thema.
Doch erst einmal holt das Leben mich ein. Marco kommt mit einem anderen Pilger hier an und wir fallen uns in die Arme. Nach einer Weile kommt auch Sebastian. Die Pause wird länger als sonst bei mir üblich. Ich laufe als erster wieder los, werde nach einer Stunde von Marco, Sebastian und Mario überholt. Deren Pause war noch ausgiebiger. Der Weg geht manchmal ganz schön steil bergauf. Obwohl es sehr kühl ist, kommt die Jacke in den Rucksack. An der Ponte Maceíra mache ich gerade ein Foto, als mein Name über die Straße gerufen wird.
Marco sitzt auf der Terrasse der Bar, in der ich 2009 auch schon Pause gemacht habe. Von hier hat man einen wunderbaren Ausblick auf die alte Brücke. Wir machen gegenseitig unsere Fotos. Es ist erst 12:30 Uhr und es sollen nur noch vier Kilometer bis Negreira sein. Also dürfen meine Füße noch einmal ausgiebig lüften. Die anderen brechen auf, nachdem wir anhand meiner Bilder, die ich auf den letzten Kilometern von jedem Werbeschild für Herbergen gemacht habe, die Herberge verabredet haben, in der wir uns treffen wollen. Marco bestätigt noch einmal, dass er einkaufen gehen will. Das verspricht ein angenehmer Abend zu werden, und mein Spanisch wird davon profitieren.
Die Gedanken an den Tod waren heute immer präsent, doch nicht erdrückend. Das Jetzt, der Augenblick hatte den größten Raum. Selten habe ich zum Fotoapparat gegriffen, wenn ich etwas Schönes gesehen habe. Es hätte den Augenblick gestört, es festhalten zu wollen.
Um 14:15 Uhr komme ich bei der Herberge an. Entweder bin ich heute besonders schnell gelaufen oder Marcos Entfernungsangabe war falsch. Egal, ich bin da und eine halbe Stunde später frisch geduscht, habe mein Pflichtprogramm absolviert und mir einen Kaffee gebraut. Den Weg hinein nach Negreira habe ich nicht wiedererkannt. Die private Herberge, in der ich untergekommen bin, ist nagelneu. Ich lese im Flyer und der Broschüre nach, die ich in Santiago für den Camino Fisterra bekommen habe. Es sind von Santiago nach Fisterra 90 Kilometer, von Negreira bis Fisterra 68 Kilometer. Also waren es heute nur 22 Kilometer. Morgen soll es bis Olveiroa gehen. Das sind 33 Kilometer und übermorgen noch einmal 35 Kilometer bis Fisterra. Dann abends noch mal die je drei Kilometer hin und zurück zum Faro Fisterra, denn den Sonnenuntergang auf den Felsen unterhalb des Leuchtturms möchte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Ob ich dann einen Ruhetag einlege oder die 31 Kilometer bis Muxía gehe, will ich heute nicht entscheiden. Jetzt sind erst einmal ein zweiter Kaffee und dann ein weiterer Abschnitt im „Peace“-Büchlein dran.
Beim Kochen für das Mittagessen habe ich eine Statistenrolle. Mit Marco und Mario sind zwei begeisterte Köche aufeinandergestoßen. Das Essen ist entsprechend gut und würde für die doppelte Anzahl von Pilgern reichen. Beim Abspülen überlässt man mir gerne die Küche. Ein weiterer Spanier, der sich gerne reden hört, stößt zu unserer kleinen Truppe. Elsa ist heute Nachmittag die einzige Pilgerin und auch sie weiß viel zu erzählen. Ich rücke aus und mache einen Stadtrundgang. Jetzt erkenne ich den Ort auch wieder. Der Weg ging 2009 an der vielbefahrenen breiten Straße entlang und nicht wie heute über Nebenstraßen, so meine Erinnerung. In einer Frutería decke ich mich für morgen mit Obst ein. Dann treffe ich durch Zufall meine spanischen und portugiesischen Pilgerfreunde wieder. Im Supermarkt kaufen wir für das Abendessen ein. Bei der Tauschaktion, die dem Aufteilen der Rechnungssumme folgt, gewinne ich eine große Menge an Münzen, genug Zusatzlast für morgen. Der Schein, den ich in den Topf geworfen hatte, war eindeutig leichter. Das Abendessen muss ich vorzeitig verlassen, denn die Herberge wird pünktlich um 22:00 Uhr geschlossen und ich habe ein Einzelzimmer in einem zur Herberge gehörenden Appartement vorgezogen. So spare ich es mir gleichzeitig elegant wieder den Abwasch zu machen. Diese Bemerkung von mir beim Gute-Nacht-Gruß wird mit viel Freude und Gelächter aufgenommen.