Wir waren heute Nacht nur zu zweit. Entsprechend ruhig war die Nacht und auch der Morgen. Heute kein Tütenrascheln, kein Wecker. Wir schlafen einfach aus und stehen irgendwann auf. Ich höre ich Motorengeräusch vor der Tür. Neugierig stecke ich die Nase zur Tür hinaus. Ein Traum steht da, ein Bäckerauto. Ich greife meine Geldbörse und sprinte zum Auto. Auf meine Bitte nach einem frischem Brot streckt der Herr mir eins herüber und auf meinen Versuch zu bezahlen, winkt er energisch ab. Freudig bedanke ich mich für die willkommene Frühstücksgabe. Katrin spricht verwundert: „Mir hat noch nie jemand ein Brot geschenkt“. Ihre Enttäuschung darüber wird schnell von dem halben Brot überdeckt, das sie nun in der Hand hält und das eine gute Basis für unser Picknick aus dem Rucksack legt. Das Wasser in der Kaffeemaschine wird nur lauwarm, entsprechend schmeckt der Kaffee. Dann entscheiden wir uns, heute noch ein Stück miteinander zu gehen und auch, in Anbetracht des Wetters, die Abkürzung über die Straße zu nehmen, die Katrins gelber Pilgerführer vorschlägt. Der Regen macht heute nur wenige Pausen. Rechtzeitig vor einem großen Guss sitzen wir in einem Café und schlürfen unseren Café con leche. Es ist erst Viertel nach zehn und erst knapp sieben Kilometer von unserem Tagespensum sind erledigt. Katrin studiert unsere beiden Pilgerführer, um den optimalen Weg zu finden. Sie ist ein Bücherwurm und derzeit mit ihrer Doktorarbeit in Theologie beschäftigt. Da ist das Studium des roten und des gelben Pilgerführers keine besondere Herausforderung.
Der gelbe von Raimund Joos, der bei mir zu Hause liegt und den sie mithat, bietet oft Alternativrouten an. Bis Santoña wollen wir gehen und ich plane einen Postkartenschreibenachmittag. Denn eine Postkarte finde ich netter als eine SMS. Auch machen die sich an der Pinnwand besser.
Bis Laredo führt der Weg wunderbar an den Klippen entlang. Dort angekommen, decken wir uns für das Mittagspicknick ein und verspeisen es auf einer Bank mit Blick auf ein Café, in dem es dann den x-ten Café con leche an diesem Tag gibt, genau in dem Augenblick, als der Regen wieder anfängt. Der Weg über die Strandpromenade ist nicht besonders schön, sondern eher langweilig. Es regnet und der Wind kommt stark von vorn. Mein Regenschirm beweist, dass er sturmfest ist.
In El Puntal holt uns ein Boot am Strand ab und bringt uns nach Santoña. Die Stadt sieht nett aus, die Herberge liegt 900 Meter außerhalb. Wir sind schon um 15:00 Uhr da und dürfen eine Stunde warten, bis die Rezeption geöffnet wird. Katrin bekommt per Telefon die freudige Nachricht, dass zu Hause in Deutschland schönes Wetter herrscht, eine Nachricht, die ich eigentlich gar nicht hören wollte. Ich hatte Spanien bisher immer mit dem Begriff „warm“ verbunden. Aber mir war heute zwischendurch recht kalt und ich überlegte schon, die Handschuhe im Rucksack zu suchen.
Jetzt wäre der ideale Moment für das Projekt „Postkarte“. Doch beim Gang durch die Stadt ist mir kein entsprechender Laden aufgefallen. So genieße ich eine Stunde der Ruhe und des Reflektierens der bisher auf dem Weg erlebten Eindrücke und Geschichten. Einiges ganz Privates habe ich von Heiner anvertraut bekommen. Auch Katrin hat mir Dinge erzählt, die ich brav für mich behalte. Ich war bisher mehr in der Zuhörer Rolle und habe wenig über mich erzählt. Der totale Alkoholverzicht auf diesem Camino ist mir bisher nicht schwer gefallen. Während ich so vor mich hin denke, liest Katrin in ihrem eBook.
Die Wartezeit vergeht im Fluge. Gegen 17:00 Uhr bin ich schön warm geduscht. Das Pflichtprogramm kürze ich ab, denn hier gibt es nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Wäsche zu trocknen. Langsam füllt sich der uns zugewiesene Schlafsaal. Viele neue Gesichter und zwei bekannte. Der Franzose, den ich bisher immer mit einem hohen Alkoholspiegel erlebt habe, läuft auch ein.
Ich ziehe mich in den Aufenthaltsraum zurück und studiere meinen roten Pilgerführer. Ich bin jetzt acht Tage unterwegs, den Tag der Anreise nicht mitgerechnet, und laut Pilgerführer schon die erste Stunde der zehnten Etappe gelaufen. Und das in aller Ruhe. Bis Güemes will ich morgen, das sind 24 Kilometer. Das sollte auch bei Regen möglich sein und es hört ja zwischendurch auch immer mal auf zu regnen.
Heute im Gespräch mit Katrin ist mir der Spruch „Erkennen, Benennen, Ändern“ wieder in den Kopf gekommen. Ich merke, dass ich teilweise schon danach lebe und so einige mir nicht gut bekommende Eigenschaften abgelegt habe. Es ist für mich auf dem Camino so einfach, mit gleichgesinnten Pilgern über die unterschiedlichsten Dinge zu sprechen. Es ist einfach Zeit und Raum dafür da. Und ich kann auch zuhören und aus den Geschichten meiner Mitpilger lernen.
Mit Katrin allein gehe ich wieder zurück in die Stadt. In zwei Bars kosten wir uns durch die Pinchos. Jetzt finde ich auch einen Postkartenladen. Wir bekommen so 21,2 Kilometer Tagesleistung zusammen. Schon früh um 21:30 Uhr gehe ich zu Bett.