Ich lasse dem Wecker im Handy nicht die Chance zu klingeln. Schon kurz vor sieben habe ich alles gepackt. Gestern kam von Katrin die provozierende Frage auf, ob der Camino nicht einfach nur eine Flucht sei, doch für mich ist er mehr. Ich habe vieles, was ich auf dem Camino gelernt habe, in meinen Alltag übernehmen können. Für mich ist er eine Auszeit, in der ich meinen Standort in meinem Leben und in der Welt in aller Ruhe bestimmen kann. Der Austausch mit vor wenigen Tagen noch wildfremden Menschen hilft dabei.
Ich nutze die Zeit bis zum Frühstück, um den Pilgerführer für den heutigen Tag auswendig zu lernen. Bald hinter dem Ort verlaufe ich mich erst einmal, ich habe einen Wegweiser übersehen. Ein Polizeiauto fährt den Forstweg entlang und die Insassen grüßen. Bald kommen sie zurück und der Fahrer sagt mir, dass dieses nicht der Weg nach Santiago sei. Er beschreibt mir den Weg zurück zur Kreuzung, an der ich falsch abgebogen bin. Als ich diese erreiche, stehen die beiden Polizisten an der Ecke und zeigen mir zur Sicherheit noch einmal den Weg. Den ersten Stopp mache ich nach sieben Kilometern. Nach dreizehn Kilometern bin ich dann um 11:00 Uhr wieder in einem kleinen Ort. Bis jetzt hat es nur geregnet. Die Entscheidung für die Regenhose war also richtig. Auch die Handschuhe kommen zum Einsatz. Mir ist zwar nach einem Café con leche zumute, aber die wenigen Bars sprechen mich nicht an. Zwischendurch hört es auch kurz auf zu regnen und der Wind bläst meine Sachen trocken.
Nach 19 Kilometern ist eine schöne Kirche geöffnet. Sogar einen Pilgerstempel gibt es. Ich stelle den Rucksack ab und mache auf der letzten Bank eine ausgiebige Pause. Der Gedanke, den ich von Marianne geerbt habe, taucht auf: Was mögen alle Menschen, die diese Kirche bauten und in ihr beteten, gedacht und gefühlt haben. Ich fühle Frieden und Ruhe. Ich kann die Vögel durch die offene Tür zwitschern hören. Kurz vor 14:00 Uhr bin ich in Comillas. Laut Pilgerführer bin ich 6,5 Stunden unterwegs, real sind es knapp sechs. Ich bin also gut im Plan und beschließe, noch die dreieinviertel Stunden bis San Vicente de la Barquera weiterzugehen. Eine Dame empfiehlt mir auf dem Platz ihre Bar für einen Kaffee. Ich verlasse den Raum wieder fluchtartig und finde zwei Ecken weiter einen angenehmeren Ruheplatz für meinen Café con leche. Weiter geht es dann durch den schwächer werdenden Regen. Um 15:00 Uhr beschließe ich, dass heute kein Regen mehr vom Himmel kommt und mache auf einer Bank vor einem Friedhof eine Umziehpause.
Eine Stunde später steht vor einer Kapelle eine schöne Bank, auf der ich meinen Picknickbeutel leere. Gestärkt geht es an die restlichen sechs Kilometer. In San Vicente finde ich gleich den richtigen Passanten, der mir den Weg zur Herberge erklärt. Um 17:15 Uhr habe ich mein Bett bezogen. Die Herberge ist einfach, doch die Dusche schön warm und die Hospitalera sehr nett. Um 20:00 Uhr gibt es gemeinsames Abendessen und morgen um 7:00 Uhr Frühstück. Die Halbpension kostet nur 13 Euro. Eine halbe Stunde später ist das Pflichtprogramm erledigt und das Tagebuch und der Pilgerführer für morgen warten. Mein Tacho zeigt nur 33 Kilometer, während der Pilgerführer von 34,5 Kilometern spricht. Da habe ich heute wohl längere Schritte gemacht, als ich eingestellt hatte.
Ich gehe noch einmal hinunter in die Stadt, kaufe mein Picknick für morgen und gönne mir einen Café con leche zum Aufwärmen. Zurück in der Herberge ist der Tisch für sechs Pilger gedeckt. Ich borge mir von einem Holländer den gelben Pilgerführer, denn darin ist die Beschreibung besser, wie man von den Herbergen zurück auf den Weg kommt. Wenn ich morgen die volle vorgeschlagene Etappe laufe, dann sind es 42,2 Kilometer. Da brauche ich in der Frühe keinen Schlenker durch San Vicente. Das Abendessen ist gut, zunächst viel Salat und dann eine schön warme Gemüsesuppe. Das Tischgespräch bleibt oberflächlich. Orte, Kilometer und Pilgerstunden tauschen wir aus. Es wird heute bei mir wohl früh ins Bett gehen.