Die Nacht ist ruhig, nur ich nicht. Trotzdem bin ich ausgeruht und recht frisch, als sich der Wecker im Taschentelefon meldet. Mit geübter Routine packe ich meine Sachen. Das große Zimmer erfordert weite Wege und ich habe alle meine Habseligkeiten gleichmäßig im Zimmer verstreut. Damit der Tacho nicht verwirrt wird, hat er noch auf dem Nachttisch Ruhepause. Mein Büchlein nehme ich zum Frühstück mit. Den Namen meiner Pilgertochter von gestern möchte ich jetzt doch direkt ins Büchlein schreiben und nicht wieder vergessen. Marianna heißt sie. Wir nehmen zusammen unser Abschiedsfrühstück ein. Die Schweiz, Österreich, Frankreich und England sind auch im Frühstücksraum vertreten. Die Wetterberichte von BBC und den spanischen Sendern werden diskutiert. Dann eine italienische Verabschiedung von Marianna, sie folgt ab hier dem Camino Primitivo. Der Weg teilt sich heute. Der Engländer ist mit seiner österreichischen Freundin in Genf gestartet. Seine Schuhe sind schon recht labil, dafür hat er Plastiktüten über den Socken, damit die Füße trocken bleiben. Er hat Angst, in neuen Schuhen Blasen zu bekommen, denn die müssten erst eingelaufen werden. Als langsam Ruhe im Frühstücksraum einkehrt, bin ich bei meiner vierten Tasse Kaffee, denn vom Nachbartisch bekomme ich die Info, dass es heute keine Bar am Weg gibt. Gut, dass die anderen Pilger ihre Pilgerführer so gründlich lesen.
Ich treffe die beiden Kärntner von gestern kurz, bevor ich die Stadt verlasse. Ein schneller Austausch über das Quartier der letzten Nacht und das Frühstück. Dann werde ich nach meinem Alter gefragt und soll ihres schätzen. Ich liege fast richtig und bekomme die exakte Auflösung: 63 und 73 Jahre sind sie alt. Namen tauschen wir nicht aus. Namen sind Schall und Rauch. Bald kommt der Abzweig zum Primitivo. Dieser Meilenstein ist einen Fotostopp wert. Dann bin ich wieder allein auf dem Weg mit den Vögeln, Kühen, Schafen und meinen Liedern. „It's time to say goodbye“ kommt mir in den Kopf. Ich habe in den letzten Tagen so viele nette Menschen kennengelernt. Und dann war immer wieder der Augenblick, Adieu zu sagen, gekommen, ohne Wehmut, meist ohne Austausch der Adressen. Jeder wird den Moment der Begegnung in Erinnerung behalten. Und nur der schöne Augenblick zählt. Über diesen Gedanken verliere ich die gelben Pfeile.
Auch am Sonntag arbeiten viele Leute in ihren Gemüsegärten und ich kann mich durchfragen. Als mir der Weg mal wieder verkehrt vorkommt, halte ich ein Auto an und bekomme ihn auf rasendem Spanisch beschrieben, einen Weg über den Pass Alto del Curbiello ohne gelbe Pfeile. Oben am Pass herrscht Touristenstimmung, aber dafür finde ich endlich wieder einen Meilenstein des Caminos. Und so ist die weitere Strecke bis Peón einfach. Die Österreicherin heute Morgen beim Frühstück hatte unrecht: Hier gibt es ein Restaurant und ich bekomme meinen Café con leche. Vier weitere Pilger sind auch noch hier, die beiden Kärntner und ein junges Pärchen aus den USA. Wie wichtig Sprachen sind, wird mir bewusst, denn die vier können sich nicht unterhalten, weil die Kärntner kein Englisch sprechen. Und ich kenne kaum einen Amerikaner der eine andere Sprache außer englisch spricht. Ich palavere mit den jungen Leuten und erfahre, dass morgen die Herberge in Avilés gut sein soll. Als Letzter breche ich auf, die Bar am nächsten Pass lasse ich rechts liegen.
Gerade, als ich denke, dass es Zeit für einen Apfel ist, taucht eine Bank mit Tisch in der Sonne auf. Meine Stofftasche ist eine schöne Tischdecke. Butter und eine Serviette habe ich heute früh beim Frühstück mitgenommen. Brot, Käse und Wasser runden das Mahl ab. Das Rauschen einer Autobahn mischt sich mit dem Gezwitscher der Vögel. Allen Wettervorhersagen meiner Mitpilger zum Trotz ist es trocken und es sieht auch nicht so aus, als ob Petrus heute noch seine Meinung ändern würde.
Ich komme an der Herberge am Campingplatz von Gijón an. Im Pilgerführer habe ich gelesen, dass diese sechs Kilometer vor der Stadt liegt. Es sind morgen zwar nur 25 Kilometer, doch die sechs möchte ich nicht aufschieben, sondern noch heute laufen. Der Weg in die Stadt hinein zieht sich wie üblich. Nach der im Pilgerführer empfohlenen Pension frage ich mich durch. Die Wirtin ist resolut: „Hier ist dein Zimmer, hier ist das Bad!“ Alles ist sehr, sehr einfach, aber sauber und mit zwölf Euro sehr preiswert. Und ich habe ein Zimmer für mich.
Ich finde ein schönes Café und überlege, ob ich mich heute noch um den Weg morgen aus der Stadt hinaus kümmern soll. Andere Probleme lasse ich wieder nicht zu. Der Kaffee hat mich frisch gemacht und auch meine Augen geschärft. Ohne Brille, die liegt in meiner Pension, entziffere ich die Beschreibung der morgigen Route im Pilgerführer. Beim folgenden Stadtrundgang, den ich mir trotz der über dreißig Kilometer in den Füßen nicht entgehen lasse, finde ich die für den weiteren Weg beschriebene Statue und den Yachthafen. Da Petrus jetzt doch beschlossen hat, Regen zu schicken, flüchte ich ins nächste Café. Gute Musik wetteifert mit drei Fernsehern, für die keiner einen Blick hat. Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen: Picknick aus dem Picknickbeutel oder irgendwo in einem der zahlreichen Restaurants im Ort ein paar Tapas essen? Es ist schon schwierig, das Pilgerleben.
Doch zuvor setze ich den Stadtrundgang fort, denn es hat aufgehört zu regnen. Ich finde eine geöffnete Kirche und ganz unerwartet ist gerade die Messe in vollem Gange. Ich lausche, tauche ein, auch wenn ich kaum ein Wort verstehe. Nach der Messe lasse ich mich auf einer Bank an der Strandpromenade nieder. Der Wind ist kühl, aber die Sonne wärmt noch etwas. Ich mache noch eine Runde durch die Stadt, jemand klopft auf meine Schulter: „Hello, pilgrim!“ Das junge amerikanische Pärchen ist auch in der Fußgängerzone unterwegs. Nun erfahre ich, dass sie Kate und Tim heißen. Sie berichten begeistert von ihrem gestrigen Quartier, einem Apartment größer als ihres zu Hause in New York. Der Vermieter hat auch noch den Stadtführer gemacht und hat ihnen per Auto die Sehenswürdigkeiten gezeigt. Die beiden haben schon gegessen uns so trennen wir uns bald wieder.
Noch eine Bank, diesmal im Yachthafen, steht in der Sonne und wartet auf mich. Ein Straßenmusikant spielt auf seinem Akkordeon zum Sonnenuntergang auf. „Donau so blau“ ist auch dabei. Zu sagen, dass es mir richtig gut geht , ist untertrieben.
Es sollte heute eigentlich ein kurzer Tag werden, aber durch den Schlenker sind doch 34,8 Kilometer zusammengekommen. Bis Santiago sind es nur noch 365,3 Kilometer. Fast genau 500 Kilometer bin ich auf dieser Pilgerfahrt schon gelaufen. Heute waren es 49.689 Schritte in die richtige Richtung. Auf dieser Pilgerfahrt kommt der Mathematiker in mir durch. Ich habe Freude an den Zahlenspielchen.