Als sich der Wecker meldet, ist der Himmel noch so trüb, dass ich mich lieber noch einmal umdrehe. Eine halbe Stunde später gebe ich mir den erforderlichen Ruck. Vor dem Packen frühstücke ich aus meinem Picknickbeutel. Ich packe routinemäßig, doch ohne Lust. Und so dauert alles etwas länger als sonst. Trotzdem bin ich um 8:00 Uhr aus der Tür. Der Regen, das nasse Gras und die Bäche auf den Wegen stellen an die Dichtheit meiner Schuhe hohe Anforderungen. Nach anderthalb Stunden bin ich in Novellana und finde eine geöffnete Bar für meinen ersten Kaffee des Tages. Ein Blick in den Pilgerführer sagt, dass ich bis hierher zwei Stunden hätte gehen dürfen. Das Thema „Angst“ hat mich diese zwei Stunden begleitet. Gestern kam das Gefühl der Angst auf, dass ich aus der Kindheit kenne, wenn ich alleine in den Keller gehen musste. Es ist ein Gefühl, das ab und an aufsteigt, das ich mir aber verstandesmäßig nicht erklären kann. Angst vor dem Tod kann es nicht sein, denn das Thema ist schon lange verstandes-mäßig bearbeitet. Oder sollten etwa meine Gefühle stärker sein als mein Verstand? Seit ein paar Tagen merke ich, wie Dinge, die ich seit der Kindheit mit mir herumschleppe, sich zu lösen beginnen. Eins der sichtbaren Zeichen war die Mutter, die ich von der Straße aufgelesen und ein Stück weitergetragen habe. Ich habe zwischenzeitlich noch öfter etwas gesehen und bewusst wahrgenommen, was man – wie mein Vater sich ausgedrückt haben würde – noch gebrauchen kann. Doch ich konnte solche Dinge ohne Bedauern liegen lassen.
Der nächste Ort taucht um 11:00 Uhr zusammen mit Regen auf. Also gibt es schon wieder einen Caféstopp. Dann geht es weg von der Nationalstraße und hinunter zur Küste. Die ist auch bei Regen schön. Die Strecke, die ich hinuntergegangen bin, darf ich auch wieder hochsteigen. Wieder kommt ein Stück Straße, dann ein schweißtreibender Abstecher einen Hügel hoch. Jetzt haben Gras und Regen gewonnen, leicht feucht fühlen sich die Socken an. Zehn Minuten vor 14:00 Uhr bin ich in Cadavedo. Mein Pilgerführer räumt mir für diesen Weg sieben Stunden ein. Luarca als Tagesziel scheint verlockend. Es liegt an einer Bucht und hat einen netten Hafen, so jedenfalls das Bild im Pilgerführer. Das wären noch etwas über vier Stunden. Jetzt muss ich nur noch ein trockenes Plätzchen für mein Picknick finden. Eine Viertelstunde hinter dem Ort taucht die beim Universum bestellte Sitzbank auf. Die Sonne wärmt, sodass ich nur im Hemd den durch eine Hecke windgeschützten Platz voll genießen kann. Pilgern ist einfach nur schön.
Auf dem folgenden Waldweg stelle ich diese Behauptung in Frage. Um Viertel nach vier taucht ein Schild auf: „Luarca 10 km“. Wenige Minuten später stehe ich vor dem im Pilgerführer angepriesene Hotel Canero. Bei einem Café überlege ich und entscheide mich, heute noch die 2,5 Stunden weiterzupilgern. Meine Entscheidung hat eine kurze Halbwertszeit. Die Tasse Kaffee ist noch fast voll, als ich schon ein Zimmer gebucht habe. Mein linker Fuß hat entschieden. Entweder ist der Schuh eingelaufen oder mein Fuß ist größer geworden. Ich stoße vorn an und das möchte ich nicht zum Problem werden lassen. Als ich die Schuhe gewechselt habe, weiß ich, dass es höchste Zeit war, auf meine Füße zu hören. Schon kurz vor fünf ist das Pflichtprogramm erledigt und ich halte eine verspätete Siesta. Abendessen gibt es um 20:30 Uhr und Frühstück morgen ab 7:00 Uhr. Alle wichtigen Eckdaten sind mit dem Wirt ausgetauscht. Über den Preis haben wir noch nicht gesprochen.
Dann haben die Gedanken Zeit, sich auszutoben, während der Körper Ruhe findet. Was hat dieser Camino mir schon gegeben, was habe ich auf diesem Weg schon hinter mir gelassen. Die Themen „Last“ und „Angst“ standen heute im Vordergrund. Ich bin meinen Rucksack durchgegangen und schätze die Dinge, die ich nicht gebraucht habe, auf 300 Gramm. Doch es ist sicher gut, z.B. eine Rettungsdecke dabei zu haben, und es ist noch besser, sie nicht gebraucht zu haben. Einige meiner Kilos sind auch auf dem Weg geblieben, das kann ich sogar ohne Waage behaupten. Mögen sie nie wiederkehren. Beim Thema „Sprachen lernen“ bin ich auch einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Mit Katrin, der Pfarrerin meines Vertrauens, habe ich mich über Glauben und Gott ganz entspannt unterhalten können. Ich teste zwar die Grenzen meines Körpers auf diesem Camino aus, überfordere ihn aber nicht, wie ich ja heute bewiesen habe. Das bringt mich zur Tagesstatistik: Ich bin bei Kilometer 263,6 vor Santiago und habe heute 40.620 Schritte gemacht.
Dass das Wetter zu Hause noch schlechter sein soll, beruhigt mich auch nicht. Mir ist trotzdem kalt. Ich habe einen Durchhänger!
Das Abendessen teile ich mit zwei Österreicherinnen. Als Vorspeise wähle ich eine warme Kartoffelsuppe, als Hauptgang heute einmal Fleisch und Pommes. Mir wird langsam warm. Den Ober können wir überreden, den Fernseher nicht einzuschalten. Draußen spielt Petrus mal wieder November. Es tut gut, ein paar Worte mit anderen Pilgern zu wechseln. Auch wenn es nur small talk ist. Die beiden sind in Bilbao gestartet und laufen 20 bis 25 Kilometer pro Tag. Den Camino Francés sind die beiden auch schon gelaufen. Wir tauschen eine gute Weile Erinnerungen und Erfahrungen aus. Mein Durchhänger ist überstanden, trotz des Novemberwetters.