„Am 30. Mai ist Weltuntergang“, so sangen meine Eltern immer. Und dieses Lied fällt mir heute Morgen ein, als ich überpünktlich zum Frühstück erscheine. Nach und nach kommt auch das Personal. Ich habe keine Energie, darum zu bitten, den Fernseher auszustellen. Draußen herrscht immer noch Novemberwetter. Bis La Caridad will ich gehen, will das Stück, das ich gestern gespart habe, heute zur Etappe dazunehmen. Aber ich werde auch heute wieder auf meine Füße hören und vielleicht früher haltmachen. Dem Pilgerführer bin ich immer noch – bis auf die zehn Kilometer nach Luarca - einen Tag voraus. Aufs Frühstück eine halbe Stunde zu warten, strapaziert meine Geduld, ich habe heute Morgen eindeutig nicht die nötige Ruhe dafür. Ich schiebe das auf die nicht zu meiner Lieblingsmusik gehörenden Töne aus dem Fernseher.
Doch dann kann ich starten. Schon um 9:00 Uhr kommt ein schönes Café in Sicht und Petrus legt mir nahe einzukehren. Heute beim Morgenappell hat sich meine kleine gelbe Plastiktüte für den Pilgerführer abwesend gemeldet. Das ist bisher alles, was ich auf dem Weg bewusst oder unbewusst verloren habe – nur nicht alle meine überflüssigen Kilos, nur nicht die mentalen Lasten. Die anderthalb Stunden heute früh waren dem Thema „Sich Kümmern“ gewidmet. Es schafft viel Klarheit, dass ich mir immer wieder einen Begriff vornehme, auf dem ich ein paar Kilometer herumdenken kann. Das habe ich auf meinen früheren Caminos gelernt, auf denen ich das Buch „Peace is Every Step“ von Thích Nhất Hạnh im Rucksack hatte.
Der Weg führt hinunter zum Hafen von Luarca und auf der anderen Seite wieder hoch. Oberhalb der Küste wechselt er zwischen Asphalt und Beton. Noch einmal geht es über einen Hügel. Dort wird ein riesiger Tunnel gebaut. Wir Pilger werden umgeleitet. An der engen Nationalstraße ohne Seitenstreifen springe ich mehrmals in den Straßengraben, wenn ein Lastwagen durch die Kurve auf mich zu schießt. Dann endlich verlässt der Weg wieder die Straße. Ich finde eine Bank und habe freien Blick auf das Tal und die Pfeiler der im Bau befindlichen Brücke, die zu dem Tunnelbau gehört. Die Frage kommt mir in den Kopf, ob denn alles immer schneller gehen muss. Eine Frage, die einem Pilger zusteht, denn ich gehe ja bewusst zu Fuß durch Spanien, wähle also das langsamste Verkehrsmittel, meine Füße. „Macht euch die Erde untertan“, dieser Spruch aus der Bibel kommt mir in den Kopf. Jetzt fehlt mir eindeutig Katrin, die Pfarrerin meines Vertrauens, damit ich diesen Spruch meinen Gefühlen entsprechend einordnen kann.
Eben war die Sonne so warm, dass ich nur im Hemd weitergelaufen bin. Doch nach ein paar Schritten krame ich die Handschuhe heraus. Ich halte durch bis zum nächsten Ort, der schon in Sicht ist. Ich ermittle, wo ich bin, studiere den Pilgerführer und weiß nun, dass es noch 4,5 Stunden bis La Caridad sind. Es ist jetzt halb zwei, ich bin also gut im Plan. Und ich bleibe im Plan. Um 18:00 Uhr stehe ich vor einer brandneuen Herberge. Also beschließe ich zu bleiben. Leider fehlt ein Topf und so kann ich mir keinen Kaffee kochen. Oder wäre jetzt ein heißer Tee dran? Nach dem Pflichtprogramm mache ich mich auf in die kleine Stadt. Doch zuvor schaue ich nach der Statistik: Ich habe bis Santiago noch 225 Pilgerkilometer vor mir. Heute waren es 50.557 Schritte.
Abendessen gibt es für mich am Tisch vor der Herberge, alles was der Tante-Emma-Laden nahe der Herberge zu bieten hat. Frische Erdbeeren steuert eine junge Kanadierin zum Nachtisch bei. Dann sitze ich noch mit einigen Pilgern zusammen. Es sind wieder viele Länder und Sprachen vertreten. Ich bin heute wohl wieder mal mit Abstand der Älteste in der Runde. Die Gründe für die Pilgerei werden ausgetauscht: Selbstfindung, Entschleunigung, religiöse Motivation, Abenteuerurlaub, sportliche Herausforderung. Es ist alles dabei.