Warum haben die hier nur knarrende Betten gekauft? Ansonsten ist es recht ruhig in dieser Nacht. Die Schnarcher haben sich wohl ein anderes Quartier gesucht. Erst um 7:30 Uhr steht einer nach dem anderen auf. Viele frühstücken aus ihrem Picknickbeutel. Die meisten haben gestern so wie ich dafür eingekauft, einige ziehen sich ihr Frühstück aus dem Automaten. Bald habe ich fertig gepackt. Ich habe Ruhe, denn heute liegen nur 28 Kilometer vor mir. Um 8:30 Uhr verabschiede ich mich von der Kanadierin und zwei jungen Südtirolern. Die meisten anderen sind schon weg. Bis zur nächsten Bar schaffe ich es, dann ist ein Café con leche fällig. Wir haben uns beim Frühstück ausgetauscht, wen wir alles auf dem Weg gesehen haben. Das französische Ehepaar, mit dem ich zum Leuchtturm in Ribadesella und nach Vega gelaufen bin, hatte die Kanadierin als Pilgertochter angenommen. Sie haben sich dann aber verloren. Ihre Beschreibung des Mannes ist perfekt: „Bei jeder Blume hat er gesagt: ‚Wie wundervoll!’.“ Noch im Ort finde ich eine zweite Bar und stärke mich noch einmal mit einem Café con leche. Die drei Jugendlichen aus Kanada und Südtirol ziehen vorbei. Bis 11:00 Uhr überholen wir uns oft gegenseitig. Auf einem großen Stein an einem Fußballfeld mache ich Mittagspause und bestelle beim Universum einen Kaffee. Mein Tacho zeigt elf Kilometer, das stimmt mit meinem Gefühl überein. Ich bin heute Vormittag langsam geschlendert.
Dann sind plötzlich die Markierungen verschwunden. Ich schaue in den Pilgerführer und stelle fest, dass ich nicht die vorgeschlagene Route beibehalten habe, sondern ganz woanders gelandet bin. Mit Hilfe der Karte im Pilgerführer und einigem Durchfragen lande ich wieder auf dem richtigen Weg, was ich daran merke, dass von rechts zwei spanische Pilger einschwenken. Zusammen gehen wir nach Ribadeo. Sie erzählen mir, wie wunderbar der Weg am Strand entlang war und zeigen mir ihre Bilder. Schade, dass ich das verpasst habe, denn heute war endlich einmal sehr gutes Wetter. Die beiden steuern auf die Herberge zu, ich befrage die Uhr und beschließe, noch bis zur nächsten Herberge weiterzugehen. Die Stadt schaue ich mir im Schnelldurchgang an. Nach einer Stunde geht es weiter.
Als ich nach Vilar hineinlaufe, sitzen drei Senioren im Bushäuschen in der Sonne und lachen sich kaputt, weil ich aus der falschen Straße komme. Ich hatte nach einer Casa Rural gesucht, von der ich ein Schild gesehen hatte. Die drei raten mir eindeutig davon ab und schicken mich zu der Herberge. Um 15:45 Uhr sitze ich mit einem Café con leche in der Sonne vor der Bar, in der ich für die Herberge einchecken konnte. Und ich weiß auch schon, dass es um 20:30 Uhr Abendessen gibt. Gut, dass ich meinem Gefühl gefolgt bin und die Stadt schnell verlassen habe. Ich bin in Ribadeo richtig unruhig geworden.
Heute Morgen hätte ich der Dame am Wegesrand nicht vertrauen sollen, denn sie schickte mich auf den Weg durchs Landesinnere. Auf dem anderen hätte ich das letzte Mal einen Tag an der Küste genießen können. Na ja, ich werde Küste und Strand noch in Finisterre und Muxía haben. Heute hat wieder mein linker Fuß entschieden, in diesem kleinen Dorf zu bleiben. Er mag wohl das Auf-der-Straße-Laufen nicht. Meine Wäsche kann ich großzügig auf dem Wäscheständer verteilen, denn ich bin noch der einzige Pilger hier. Bei der Sonne und dem Wind wird alles schnell trocken werden.
Und dann kommt die Zeit für die Tagesstatistik: Ich bin bei Kilometer 190,1 vor Santiago. Laut Pilgerführer habe ich die ersten zwei Stunden von Etappe 23 hinter mir. Und wenn ich richtig nachzähle, bin ich 21 Tage unterwegs. Ich kann also stolz auf meinen Körper sein. Da ich Zeit habe, setze ich die Statistik noch fort. Bei Kilometer 860,9 bin ich gestartet, minus 190,1 Kilometer, das ergibt 670,8 Kilometer, die ich bisher gelaufen bin. Die verteilt auf 21 Tage und ich erhalte knapp 32 Kilometer pro Tag. Ich muss an Michelle auf der Via Francigena denken. Statistik war ihre Lieblingsbeschäftigung jeden Abend und mir war die Rechnerei damals total egal. Und nun sitze ich hier in einem winzigen spanischen Dorf und mache das Gleiche. Und beinahe hätte ich auch noch vergessen, die 38.311 Schritte von heute aufzuschreiben. Mein spezieller Weg war doch eine deutliche Abkürzung, und obwohl ich den kleinen Gang eingelegt hatte, habe ich wohl große Schritte gemacht. Soviel zum Thema Sinn und Unsinn einer Statistik.
Viel wichtiger ist mir, dass ich jetzt um 17:30 Uhr noch in der wärmenden Sonne sitzen darf und heute kein einziger Tropfen Regen gefallen ist. Drei andere Pilger treffen per Auto ein. Das sieht bei denen nach einem Wochenendausflug aus, denn heute ist ja Freitag. Mein Kopf ist schön leer. Ich überlege, ob ich nicht anfangen sollte, Autos zu zählen, denn mein Tisch steht strategisch günstig mit Blick auf die Straße. Um 18:06 Uhr kommt ein Fahrrad vorbei. Um 18:37 Uhr breche ich das Vorhaben ergebnislos ab. Ich glaube, man kann den Ort zu Recht als abgeschieden bezeichnen. Mir fallen die drei Senioren an der Bushaltestelle ein. Ich habe den Eindruck, dass sich hier in Spanien viel mehr Senioren auf der Straße aufhalten und einen Plausch halten als bei uns zu Hause. Es stehen auch viel mehr Bänke an den Straßen. Punkt 18:50 Uhr kommt doch tatsächlich ein Auto vorbei. Nachdem auch alle Rasen in diesem Ort gemäht sind, kehrt Ruhe ein. Ich überlege, ob ich Langeweile habe und verneine. Es macht Spaß, den Vögeln zu lauschen, die Bäume sich im Wind wiegen zu sehen, eine Katze auf der Lauer zu beobachten. Die drei anderen Pilger sind vorhin ohne Rucksack wieder weggefahren und kommen jetzt zu Fuß zurück. In rasendem Spanisch wird mir erklärt, wo sie ihr Auto geparkt haben.
Jetzt, wo die Sonne nicht mehr wärmt, wird es kühl und die Zeit bis zum Abendessen zieht sich. Doch ich habe die „Mundorgel“ dabei und studiere wieder Liedtexte. Es hat sich gelohnt, auf das Essen zu warten. Von der heißen galicischen Gemüsesuppe als erstem Gang wird mir warm. Mit dem Fisch als Hauptgang habe ich einen Treffer bei der Auswahl gelandet. Die Nähe zum Meer schmeckt man.