Gestern Abend trafen noch zwei Pilger ein, darunter ein Schnarcher. Die Franzosen stehen um 6:00 Uhr auf, also ist die Nacht auch für mich beendet. Noch ist genug im Picknickbeutel für ein Frühstück. Um 7:30 Uhr habe ich die Schuhe an und bekomme den schönen Sonnenaufgang mit.
Irgendwo in der Stadt verpasse ich den Weg, frage mich durch und kann entlang eines Flusses sehr schön zum Weg zurückfinden. Die Vögel singen, die Sonne scheint. Pilgern ist heute einfach nur schön. Es geht an kleinen Bauernhöfen vorbei. Um halb elf sitze ich bei einem Café con leche und mache Pause. Vor Kurzem habe ich auf einem Schild gesehen, dass es heute für mich nur noch neun Kilometer sind.
Auf den letzten Kilometern habe ich die restlichen Tage dieses Caminos im Kopf durchgeplant. Auf die Nacht morgen im Kloster freue ich mich besonders. Gespannt bin ich, ob es mit der Übernachtung bei Heidi klappt, die ich bisher nur aus dem Internet kenne. Es könnte so auskommen, dass ich abends in Santiago ankomme, gerade rechtzeitig zur Abendmesse. Und dann sind es noch vier Tage bis Muxía und Finisterre. Diesmal werde ich vielleicht erst nach Muxía gehen und Finisterre ist dann der endgültige Abschluss dieser Pilgerfahrt. Doch warum plane ich? Reicht nicht der pure Wille, den Weg zu Ende zu gehen, und genügt es nicht, nur den nächsten Schritt zu planen? Eines weiß ich aber, diesmal möchte ich so schnell wie möglich in Santiago ankommen.
Zunächst komme ich aber in Baamonde an. Ein Herr steht vor der Herberge und begrüßt mich. Eine nette Dame erklärt mir alles. Der gelbe Pilgerführer hat sie als wohl schönste Hospitalera auf dem Camino del Norte angepriesen und man mag dem Pilgerführer diesmal recht geben. Es tut gut, auch mal um halb zwei anzukommen. Nach einer halben Stunde ist das Pflichtprogramm erledigt und ich sitze im Restaurant des Bruders des Bildhauers Victor Corral vor einer Riesenterrine galicischer Gemüsesuppe, gefolgt von Rippchen. Es ist fast ungewohnt, mal wieder Fleisch zu essen. Beim Getränk bleibe ich beim Wasser. Dieser Camino bleibt in puncto Alkohol meine persönliche Fastenzeit.
Nach dem Essen gehe ich zum Museum. Mich erwartet ein älterer Herr, wie sich herausstellt, der Künstler Victor Corral selbst. Er erklärt mir den Park und ich kann mir in aller Ruhe die vielen Kunstwerke ansehen. Dann zeigt er mir die Ausstellungsräume, seine Werkstatt und eine kleine Kapelle. Dort beeindruckt mich vor allem, wie zentral er die Paloma darstellt. Sein ganzes Schaffen ist von der Taube als Sinnbild des heiligen Geistes durchzogen. Auch wenn wir nur wenige gemeinsame Sprachkenntnisse haben (er bietet Spanisch und Französisch an), kommt doch viel vom Anliegen seiner Kunst bei mir an. Ich bin nachhaltig beeindruckt von seiner inneren Ruhe und dem Frieden, den er ausstrahlt. Sein sanftes Wesen und sein Alter beschreibe ich vielleicht am besten, wenn ich sage, dass er den Auslöser meiner Kamera auch nach drei Versuchen nicht kraftvoll genug herunterdrücken kann. Er wollte mich auf einem Felsen, in den er einen Sitz gemeißelt hat, fotografieren. Doch bei aller Sanftheit ist er so geschäftstüchtig, mir einen Katalog zu verkaufen. Auch wenn dieser auf Spanisch verfasst ist, nehme ich ihn gern. Es gab kein Eintrittsgeld und er hat mir fast zwei Stunden seiner Zeit geschenkt.
Auf dem Rückweg finde ich nahe der Kirche die uralte Edelkastanie, die er durch seine Schnitzerei vor dem Fällen gerettet hat. Nach soviel Kultur stärke ich mich mit einem Grande Café con leche.
Im Pilgerführer lese ich nach, dass es morgen 40,9 Kilometer sein sollen. Auf dem Weg zurück zur Herberge sehe ich Corry und Matthias vor einer Bar sitzen. Ein Stuhl ist noch frei und Corry besorgt eine weitere Runde Kaffee. Ich erzähle gerade, dass ich wohl noch weitere zwanzig Caminos brauche, um meine Gewohnheit abzulegen, mich für alles verantwortlich zu fühlen. Es kommt etwas über die Piazza geflogen. Ich greife danach, frage, ob es jemandem gehört. Matthias hat nur einen knappen Kommentar: „25 Caminos.“ Lautes Lachen gibt ihm recht.
Zusammen gehen wir noch in den Supermarkt, dann ziehen die beiden weiter. In ihrem Pilgerführer wird eine Herberge in sechs Kilometer Entfernung angepriesen. Das entschärft die Etappe morgen bis zum Kloster, fügen sie noch hinzu. Meine Wäsche ist inzwischen trocken und die Herberge hat sich etwas gefüllt. In meinem Raum bin ich jedoch bis jetzt noch allein. Ich setze mich in den Garten und lasse die Gedanken vorbeiziehen. Viele Dinge sind mir auf diesem Camino durch den Kopf gegangen. Einiges hat sich gelöst, einige Dinge aus der Kindheit sind verarbeitet. Wird das mein letzter Camino gewesen sein oder gibt es die im Kopf geplanten Caminos noch in den nächsten Jahren? Heute, bei Sonnenschein, sage ich „Ja“, vorgestern bei Nebel war es ein „Wohl kaum“. Auf jeden Fall habe ich schon ein Update für meine Packliste: statt sieben Wäscheklammern bitte neun.
An diesem Punkt angekommen, mache ich mich auf zu einer weiteren Runde durch den kleinen Ort und bleibe bei einem Ehepaar aus Stuttgart bei einem Café con leche hängen. Lena und Werner kommen vorbei. Sie sind auf dem Weg zum Supermarkt. In der Herberge treffe ich das Ehepaar aus Holland. Habe ich mal nur eine kurze Etappe zurückgelegt, schon trifft man sich wieder. Lena erzählt, dass sie in den letzten Städten einen Besichtigungstag eingelegt hat. Sie ist auf den Etappen wirklich schnell. Werner verliert ständig seine Sachen. Heute sind es die Socken, gestern war es das Handtuch.
Diese hier ist die letzte Herberge vor der 100-Kilometergrenze, die oft von Kurzstreckenpilgern als Startort genommen wird, weil man die Compostela erst bekommt, wenn man mehr als hundert Kilometer weit gepilgert ist. Mein Tacho zeigt heute 35.930 Schritte an.