Der Wecker klingelt um 6:30 Uhr. Zum ersten Mal auf dieser Pilgerfahrt ist mein Hemd über Nacht nicht trocken geworden, ich habe wohl zu spät gewaschen. Da werde ich heute am Rucksack außen etwas mehr hängen haben. Routinemäßig ist der in wenigen Minuten gepackt. Schon nach achtzig Metern werde ich daran erinnert, dass ich auf dem Francés bin. Vier Pilger stehen an der Ecke, an der ich gestern abgebogen bin, und überlegen, ob ein Kaffee fällig ist. Auf dem Weg finde ich immer eine Lücke, um dem Geklapper der Stöcke der anderen Pilger auszuweichen. Ich bin ja diesmal ohne Stöcke losgezogen und vermisse sie auch nicht. Oft lässt mich ein lautes „Buen Camino!“ in die Büsche springen. Die Radfahrer, meist ohne Gepäck, aber dafür oft in einer Gruppe zu sechst oder acht kommen den Weg entlanggeschossen.
Nach sechs Kilometern gönne ich mir eine Pause und lasse den anderen Pilgern den Vortritt. Schöne Erinnerungen an meinen ersten Camino ziehen mir durch den Kopf. Vieles erkenne ich hier wieder. Viele Geschichten fühlen sich an, als seien sie gestern geschehen. Dann erreiche ich den Santiago-Stein kurz vor dem Flughafen. Ein Pilger sitzt im Gras und schreibt Tagebuch. Ich ziehe am Flughafen vorbei. In einer schönen Bar mache ich Pause mit Banane, Kaffee und Blick auf einen Souvenirstand. Ein riesiges Schild „Sello“ erinnert mich daran, dass ich heute noch keinen Stempel habe. In den Pilgerpass kommen zwar nur die Stempel von Übernachtungsorten und Kirchen, aber ab Kilometer 100 habe ich angefangen, die Stempel der Bars und Herbergen, an denen ich Pause machte oder verweilte, in mein Tagebuch zu drücken. Das ist mein doppelter Boden, falls das Gerücht wahr ist, dass man auf den letzten 100 Kilometern zwei Stempel pro Tag braucht. Langsam schleppe ich mich weiter. Heute ist das Wort „schleppen“ angebracht. Es ist, als ob ich in diesen Stunden den ganzen Camino del Norte in einem Stück ginge.
Auf der Bank an dem Becken, in dem sich die Pilger früher gewaschen haben, bevor sie nach Santiago einzogen, mache ich wieder Rast. Brot, Käse und Wasser sind eine köstliche Mahlzeit. Die letzten Kilometer nach Santiago hinein sind nicht wirklich schön zu nennen. Am Monte do Gozo lasse ich mir Zeit, gehe ums Papstdenkmal herum, fotografiere andere Pilger mit deren Kamera.
Dann sind es noch fünf Kilometer durch die Vororte von Santiago. Im Restaurant „Elefante“ mache ich meiner Pilgerfreundin Eva vom Caminho Português im Jahr 2012 zu Ehren noch einen Kaffeestopp, bevor ich mich zum Pilgerbüro für den offiziellen Teil der Ankunft in Santiago aufmache. Jetzt um die Mittagszeit brauche ich nicht anzustehen, sondern bekomme in Windeseile meine fünfte Compostela ausgestellt. Die Rolle für den Heimtransport des Dokuments erstehe ich bei einer Irin, die hier freiwilligen Dienst macht.
Dann steht der Gang in die Kathedrale auf dem Programm. Auch hier viel Ruhe, keiner drängelt, als ich bei der Jakobsstatue verweile. Das Quartier meiner Wahl hat gerade Mittagspause. Also kaufe ich erst einmal Postkarten und schreibe diese bei einem Café con leche. Ein Lächeln habe ich beim Postkartenkauf von der Verkäuferin geerntet, als ich auf ihr „one fifty“ „uno cincuenta“ gekontert habe.
Mein Zimmer liegt ganz nah bei der Kathedrale. Ich erledige schnell mein Pflichtprogramm. Dann mache ich mich auf in ein strategisch gut gelegenes Café, um Pilger zu beobachten. Die meisten Gesichter strahlen, bei einigen ist der Gang etwas schleppend. Auf dem Platz vor der Kathedrale treffe ich Corry und Matthias, die gerade angekommen sind. Ich kann es nicht lassen, ihnen zu sagen, wo sie das Pilgerbüro und die Touristeninformation finden. Dabei haben sie den Weg bis hierher auch ganz allein gefunden. Auch Zouw, die Chinesin, die in Helsinki studiert, hat es allein hierher geschafft. Jetzt lese ich sie völlig erschöpft sozusagen auf der Straße auf. Sie hat noch kein Quartier. Ich bringe sie zu meinem und da ist tatsächlich noch ein Zimmer frei. Dann mache ich mich wieder auf in die Kathedrale, denn ich will die Abendmesse nicht verpassen.
Heute Nachmittag habe ich die Fahrpläne der Bahn studiert. Kurz vor 10:00 Uhr geht ein Zug nach Hendaye. Den habe ich 2010 ab León auch genommen. Ich glaube, ich werde mit diesem Zug fahren, fragt sich nur, an welchem Tag. Offen ist auch, ob ich erst nach Muxía oder direkt nach Fisterra laufe. Aber diese Entscheidung hat ja noch Zeit.
Heute habe ich mit Zouw das Gleichnis vom barmherzigen Samariter so gelebt, wie ich es verstanden habe. Ich habe ihr geholfen, sie zu einem Quartier gebracht und bin dann meinen eigenen Bedürfnissen nachgegangen.
Während der Messe sehe ich vorn im Seitenschiff Linda sitzen. Nach der Messe finden wir uns und fallen uns in die Arme. Sie hat zwar schon gegessen, begleitet mich aber zum „Elefante“. Ein Update der letzten beiden Tage und unserer Befindlichkeiten folgt. Ich schenke ihr meinen Stadtplan, sie mir eine Flasche Wasser. Wir setzen uns auf einem Platz auf eine Steinbank und beobachten andere Pilger. Sie hatte auf diesem Camino vor, ihr Englisch zu verbessern, ich biete an, die Sprache zu wechseln. Grinsend lassen wir das. Sie geht in ein paar Wochen für ein Jahr nach USA um auf einer Pferderanch zu arbeiten. Dann begleite ich sie ein Stück zu ihrer Herberge.
Als Absacker genehmige ich mir in einem Café noch ein Mineralwasser. In meinem Quartier lese ich noch einmal die Wegbeschreibung für morgen, obwohl ich den Weg schon zweimal gegangen bin. Dann studiere ich die Fahrpläne für die Rückfahrt und komme ins Grübeln, ob nicht ein Flug doch bequemer ist. Der Tacho bleibt bei 43.875 Schritten stehen.