Als ich um 6:30 Uhr auch ohne Wecker aufwache, habe ich die Idee, mein Frühstück im Café „Casino“ einzunehmen. Also packe ich den Rucksack nur halb und ziehe los. Die Stadt ist wie ausgestorben. Leider ist das Café noch geschlossen und alle anderen Cafés, an denen ich vorbeikomme, auch. Also muss ich zurück in mein Quartier, packe fertig und ziehe los. Ich freue mich über die Ruhe, die ich habe. So ausgeprägt ist sie erst auf diesem Camino geworden. Habe ich das von Corry und Matthias gelernt? Ich hätte es auch 2009 schon von Jeanin und Collin lernen können.
In aller Ruhe fotografiere ich noch einmal die Kathedrale auf dem fast leeren Platz. Dann mache ich mich zum dritten Mal in meinem Leben auf den Weg ans Ende der Welt. Schon bald taucht ein angenehmes Café auf, kein Fernseher und gute Musik. Ich sehe andere Pilger vor den Fenstern vorbeiziehen. Das sind also die, die mir in Negreira das letzte Bett wegnehmen werden. Oder sind es die, die nur ein Stück laufen und den Rest per Bus erledigen? Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen, verweile noch eine Zeit lang und ziehe dann langsam meines Weges.
Nur zwei Radpilger stören für einen Augenblick meinen Gedankenfluss. Ansonsten bin ich bis zur nächsten Bar allein auf dem Weg. Mein Tacho zeigt Viertel vor zehn und neun Kilometer an, die hinter mir liegen. Das ist gut ein Drittel der heutigen Etappe, also wieder kein Grund, um aus der Ruhe zu geraten. Der Stempel der Bar kommt in mein Tagebuch und verrät mir, dass sie „Arcos“ heißt und ich in Quintans bin. Wieder unterwegs hole ich eine junge Frau aus Dänemark ein. Wir unterhalten uns bis in den nächsten Ort. Dann schwenkt sie links zu einer Bar ein. Ich ziehe weiter, finde eine Bank im Schatten in einem kleinen Park. Das ist genau der richtige Ort für mein Picknick.
Danach führt der Weg noch einmal kräftig bergauf. Obwohl mir nach einem Kaffee zumute ist, widerstehe ich einer Bartür. Ich habe das „Mesón“ an der Ponte Maceira in so guter Erinnerung, dass ich auch dieses Mal dort Pause machen möchte. Um halb eins sitze ich dort auf der Terrasse und genieße. Wenn ich den Pilgerführer richtig lese, sind es heute nur noch vier Kilometer für mich. Ich bitte ein spanisches Pärchen, ein Foto von mir zu machen. Die Brücke ist gut getroffen, meine Füße – das Wichtigste auf dem Camino – fehlen. Als Trost bestelle ich ein Mineralwasser und bekomme eine Schale Oliven als Dreingabe, gefolgt von einer Kostprobe Pulpo. Heute also probiere ich ihn endlich einmal und er schmeckt vorzüglich. Ich beschließe, den Schlendrian fortzuführen und setze mich mit dem Menú del diá auseinander. Von meinem Terrassenplatz aus sehe ich weitere Pilger vorbeiziehen. Ich fühle mich heute nicht auf dem Camino, ich habe heute Urlaub.
Zu Hause werde ich in meinen Tagebüchern den Ablauf dieser Pilgeretappe in den Jahren 2009 und 2012 nachlesen können. Ich habe in Erinnerung, dass sie beschwerlicher war. Und da jetzt das Wetter schön ist, nicht zu heiß, aber sonnig, plane ich meinen nächsten Camino. Die Vía de la Plata läuft dabei der Via Francigena den Rang ab. Über die Rechnung, die mir die Kellnerin vorlegt, bin ich positiv überrascht. Auf dem nächsten Camino werde ich hier wieder ausgiebig Pause machen.
Doch erst einmal geht es noch für eine Stunde auf den Weg. 200 Meter vor der Herberge fängt es dann an zu regnen. Es lohnt nicht mehr, das Regenzeug herauszukramen. Die Herberge ist so gut, wie ich sie vom letzten Jahr in Erinnerung habe. Nach dem Pflichtprogramm braue ich mir eine Tasse Tee. Dann überdenke ich den Einkaufszettel für mein Abendessen, für das Frühstück morgen und das Picknick für die nächsten zwei Tage. Ich habe keine Lust, mich in den Regen zu begeben, also schiebe ich das Vorhaben einzukaufen möglichst lange auf. Ein Plausch mit Grace, einer Irin, verkürzt die Zeit. Sie hat die Angewohnheit immer zwei Herbergen für den nächsten Tag zu reservieren und dann spontan eine von beiden auszusuchen, je nachdem wie weit sie kommt. Ich drücke mein Missfallen über diese egoistische Strategie aus. Dann mache ich mich schließlich doch auf zum Supermercado. Ich treffe zwei Österreicherinnen. Bei einem Kaffee in der nächsten Bar erfahre ich, dass sie in Etappen über mehrere Jahre von zu Hause bis hierher gelaufen sind. Hut ab! Nun aber weiter zum Supermercado!
Auf der Straße ruft jemand meinen Namen. Die junge Italienerin, die den Primitivo gegangen ist, hat mich nach fast zwei Wochen wiedererkannt. Also gibt es einen Wiedersehenstrunk in der nächsten Bar. Dann kommt sie mit und schaut sich meine Herberge an und hadert mit der Entscheidung für ihre Herberge. Meine Einkäufe reichen für ein Abendessen für uns beide. Irgendetwas hat mich heute bewogen, sogar Erdbeeren zu kaufen. Marianna schwärmt von ihrem Weg auf dem Camino Primitivo. Er sei jedoch ganz schön anstrengend, da es immer bergauf und bergab gehe. Den Abwasch erledigen wir noch gemeinsam, dann eilt sie kurz vor 22:00 Uhr ab in ihre Herberge. Mein Tacho bleibt heute bei 33.165 Schritten stehen.