Um halb acht sitze ich in der Herberge am Frühstückstisch. Wegen meines Magens gibt es nur trockene Kekse und Tee. Eine junge Tschechin leistet mir Gesellschaft und bietet mir Honig für meinen Tee an. Sie hat tatsächlich ein ganzes Glas Honig im Rucksack. Wir bleiben schweigsam. Heute vor einem Monat bin ich zu Hause losgefahren. Der letzte Tag dieser Pilgerfahrt ist angebrochen. Ich brauche ewig, um mein Zeug zusammenzupacken. Langsam mache ich mich auf den Weg, Schritt für Schritt beschließe ich diese Pilgerfahrt. Ziemlich in der Mitte der heutigen Etappe liegt Lires und ich mache Rast in der dortigen Bar. Wie es für den Camino üblich ist, treffe ich Rüdiger, mit dem ich in Olveiroa zu Abend gegessen hatte.
Den Gedanken, hier den Pilgertag zu beenden und morgen das restliche Stück bis Fisterra zu gehen, schiebe ich beiseite. Ich will mich baldmöglichst in Richtung Heimat aufmachen. Und dazu gehört, heute noch die ungefähr vierzehn Kilometer zu laufen. Die je drei Kilometer hin und zurück zum Leuchtturm (Faro) gelten nicht, denn die läuft man ohne Gepäck. Nachmittags fällt mir auch heute das Pilgern leichter. Petrus hat Erbarmen, es hört auf zu regnen und auch der Nebel verzieht sich. Ab und an kann ich die Küste sehen. Ich hatte heute Morgen überlegt, die Küstenwegvariante zu gehen. Doch die ist etwas länger und das wollte ich meinem Magen nicht zumuten.
In Fisterra komme ich schon um Viertel nach vier an und finde auf Anhieb das Hotel, in dem ich schon 2009 und 2012 so gut übernachtet hatte. Ich bekomme wieder ein schönes, großes Zimmer. Nach dem Pflichtprogramm mache ich mich auf, meine Urkunde abzuholen. Jetzt sind wieder drei Urkunden in der Rolle aus Santiago. Ich freue mich jetzt schon, sie zu Conny zu tragen und wieder professionell rahmen zu lassen. Dieses Ritual gehört als Abschluss zu meinen Caminos. Jetzt belohne ich mich erst einmal mit einem Café con leche. Das Restaurant habe ich sorgfältig auf einem längeren Stadtrundgang ausgewählt. Ich beschließe, für die Strecke zum Leuchtturm die Pilgerschuhe noch einmal anzuziehen. Auf den Felsen könnte es mit den Crocs rutschig werden. Petrus meint, dass noch etwas Nieselregen für mich gut sei. Also darf der Regenschirm mit ans Ende der Welt. Aber bald hat Petrus Erbarmen, der Schirm lohnt sich doch nicht, denn der Wind trocknet sofort alles wieder. Nun bin ich also zum dritten Mal am Ende der Welt, bin zweimal quer durch Spanien gelaufen.
Was hat mir diese Pilgerfahrt gegeben? Ohne es im Einzelnen benennen zu wollen, darf ich sagen, sehr viel. Werde ich wieder pilgern? Heute Mittag habe ich zu Rüdiger gesagt: „Nie wieder!“ Er antwortete nur: „Ich frage Dich in drei Wochen wieder.“ Ich warte am Faro die Dämmerung ab. Der Sonnenuntergang im Jahr 2009 bleibt der schönste, den ich hier erlebt habe.
Bei der Suche nach einem Tisch in der deutschen Bar unten in Fisterra tritt das Universum den Beweis an, dass die Welt ein Dorf ist. Stefan spricht mich an. Er hat in Lohmar zwei meiner Vorträge gehört und ist in Burgos gestartet. Also fällt die Platzsuche einfach aus. Da Caroline aus USA mit von der Partie ist, bleiben wir bei Englisch. Ich verabschiede mich als erster gegen 22:00 Uhr, denn ich bin echt müde. Zu müde auch, um mit der jungen Tschechin vom Frühstück noch ein paar Worte zu wechseln, die hier in der Bar mit ihrem Buch vor der Nase sitzt. Der Tacho zeigt 50.170 Schritte an.