Mein Wecker steht auf 6:30 Uhr, doch den kann ich um kurz nach 6:00 Uhr schon abstellen. Die Ersten fangen schon an zu packen. Der Bus nach Santiago geht erst um 7:30 Uhr. Also bleibt Zeit, in der gut ausgestatteten Küche einen Kaffee zu kochen. Gestern waren wegen des Feiertages alle Supermärkte geschlossen, also muss das Frühstück bis Santiago warten. Auf eine geöffnete Bar auf dem Weg zum Bus hoffe ich nicht. Eine Rumänin stellt aus Versehen mein Kaffeewasser aus, ist aber so nett, Bescheid zu sagen. Sie ist wegen des Busses in Eile. Dabei geht der erst in einer Dreiviertelstunde und es sind keine zehn Minuten bis zur Haltestelle, für mich kein Grund mich von ihrer Hektik anstecken zu lassen. Am Bus sammelt sich eine kleine Pilgerschar. Ich treffe einen Österreicher, der über die Vía de la Plata hierhergekommen ist. Dankbar sauge ich seine Erzählungen und Informationen auf, denn die Vía will ich auch einmal bei Gelegenheit gehen.
In Santiago ist die Verabschiedung kurz, jeder will irgendwie weiter. Ich brauche nur zweimal nachzufragen, um auf den rechten Weg zur Kathedrale zu gelangen. Einen Gang zur Jakobsstatue mit einer langen Umarmung gönne ich mir. Es ist wenig los an diesem Ostersamstag und so fühle ich mich nicht gedrängt. Im Touristenbüro besorge ich mir einen Stadtplan und die nette Dame macht mir ein Kreuz dahin, wo mein Hotel liegt. Es sollen nur fünf Minuten zu Fuß dorthin sein. Für meine Pilgerfreundinnen Jutta und Felicitas besorge ich die Abfahrzeiten des Busses nach Porto. Die beiden haben kein Internet und so werde ich ihnen die Info per Fax nach Gran Canaria zukommen lassen. Dann erhole ich mich bei einem guten Frühstück im schicken Café „Casino“. Ich mutiere vom Pilger zum Touristen.
Um 11:00 Uhr bin ich beim Hotel und kann meinen Rucksack abgeben. Nur noch meine Schuhe weisen mich als Pilger aus.
Um 11:30 Uhr finde ich noch einen Platz in der ersten Reihe in der Kathedrale für die Mittagsmesse, die ja die Pilgermesse ist. Nach der Messe laufe ich Eva in die Arme. Wir erzählen uns, was wir seit Montag beide erlebt haben. Unser Mittagessen weiten wir bis 15:00 Uhr aus. Für 19:00 Uhr verabreden wir uns in der Tapas-Bar „Zum Elefanten“. Es tut gut, sich mit Eva auszutauschen, denn sie arbeitet in der Palliativmedizin.
Die Stippvisite im Hotel macht mich frisch für den Nachmittag und Abend. Das Pflichtprogramm ist auf ein Minimum beschränkt, denn es geht ja morgen nach Hause. Doch die – letzte Nacht nicht getrocknete – Wäsche will zumindest versorgt werden. Dann geht es ins Café „Jacobus“.
Jetzt lässt auch meine Seele Gedanken über den im Abklingen befindlichen Camino zu. Zwar bin ich noch weit davon entfernt, mich spanisch unterhalten zu können, doch fühle ich mich wohler bei den täglichen Kleinigkeiten. Ich bin sicherer geworden, nur das zu tun, was mir guttut, und die Kompromisse auf ein für mich erträgliches Minimum zu reduzieren. Das Thema, das ich mir zu Hause vorgenommen habe, mein Geburtsort und die ersten fünf Jahre meines Lebens, ist kurz und knapp am Ankunftstag in Porto abgehakt worden. Maik stammt aus Babelsberg, das liegt sechs Kilometer von meinem Geburtsort entfernt. Das genügte mir, um das Thema abzuhandeln.
Werde ich wieder pilgern? JA! Der Camino del Norte und die Vía del la Plata liegen für nächstes Jahr hoch im Rennen. Dieses Jahr im September werde ich noch mit meiner Pilgerfreundin Michelle aus Florida weiter auf der Via Francigena bis nach Lausanne pilgern.
Erst einmal pilgere ich zum nächsten Café in unmittelbarer Nähe zur Kathedrale. Es macht einfach Spaß, Leute zu beobachten. Ein Museum zu besuchen, fällt heute für mich wieder mal aus. Vielleicht habe ich mein ganzes Leben bisher zu viel im Gestern gelebt. Und nur wenig Blick für die Zukunft und vor allem für das JETZT gehabt.
Um kurz vor sechs finde ich mich wieder in der Kathedrale ein. Es wird der Kreuzweg gebetet. Es ist interessant zu beobachten, wie die Gläubigen – oder soll ich sagen die Schaulustigen – sich verhalten.
In dem vegetarischen Restaurant „Zum Elefanten“ treffe ich Eva auf den Gongschlag genau. Leider gibt es erst in einer Stunde etwas zu essen und so ziehen wir weiter. Wir geraten in die Ostersamstagsprozession. Viele Kinder laufen mit und auch die galicische Militärpolizei, einmal als Kapelle und dann auch mit Gewehr, Spaten und Axt. Als die Prozession vorüber ist, machen wir uns erneut auf die Suche nach einem Restaurant. Bevor wir fündig werden, treffen wir wieder auf die Prozession. Jetzt singen die Soldaten sogar.
Wir suchen uns das vollste Restaurant aus, denn wo viele Leute speisen, muss es gut sein. Und das ist es dann auch. Als Krönung des Abends höre ich meinen Namen rufen und schon fällt mir Carmen um den Hals. Wir haben kaum ein Wort auf dem Camino Fisterra gewechselt, aber oft zusammen eine Pause gemacht. Ein glücklicher Zufall hat uns heute Abend beide in dieses Restaurant geführt. Diese zufälligen Begegnungen, diese herzlichen Umarmungen machen für mich den Camino aus.
Prozession in Santiago de Compostela