Wieder mindestens ein Wecker. Es gibt Frühaufsteher unter den Pilgern, was bei den Temperaturen auch Sinn macht. Hier in der Auberge gibt es von 7:00 Uhr bis 7:30 Uhr Frühstück. Ein beeindruckender Sonnenaufgang entschädigt für das frühe Aufstehen. Ich trödle, warte, bis die meisten gegangen sind. Mit Manuela verständige ich mich kurz, ich werde auf Angela aus Kanada warten und mit ihr über den Berg gehen. Angela hat am vorherigen Tag bis hierher fünf Stunden gebraucht und wir machen uns etwas Sorgen.
Angela und ich gehen langsam und gemütlich los, haben Zeit und Muße, hier und da etwas zu schauen. Bei der Marienstatue werden Bänke und Stühle für einen Gottesdienst aufgebaut. Wir erfahren, dass die Gemeinde ihren Pastor mit diesem Open-Air-Gottesdienst verabschiedet. Es ist eine traumhafte Landschaft und wir ziehen weiter gemütlich einher. An einem Kreuz machen wir eine ausgiebige Mittagspause. Angela hält sich tapfer. Am Rolandsbrunnen kommt etwas Hektik auf, denn auf einmal sind viele Pilger da und jeder will schnell sein Wasser auffüllen und weitereilen. Die Grenze zu Spanien merkt man nur an der veränderten Markierung und einem Stein, der die Region Navarra angibt.
Die letzten Kilometer fallen Angela dann doch recht schwer, der Weg zieht sich, ihr Wasser ist alle – nun, ich habe noch etwas. An der Herberge angekommen, sitzt Manuela an der Tür und erklärt uns die Sache mit dem Schichtessen in den beiden Restaurants. „Ach, hol Du doch die Essenmarken auch für uns", sage ich nur und sie ist schon unterwegs. So können wir in Ruhe unser Bett in der 100-Mann-Herberge beziehen, duschen, Wäsche waschen und noch etwas in der Sonne sitzen. Zu dritt gehen wir zur Pilgermesse. „Ihr kennt Euch schon lange", stellt ein anderer Pilger fest – „Nöh, erst seit gestern", ist unsere trockene Antwort. In der Schlange zur Dusche spreche ich jemanden an: „Hallo, Jürgen!" – „No, I'm Norman", antwortet der. Dann erzählt er mir empört, dass aus einer der beiden Herrenduschen gleich zwei junge Mädchen herausgekommen seien. Auf dem Weg zur Messe treffe ich Siggi und Renate. Sie haben in Saint Jean einen Ruhetag gemacht und sind dann über den anderen Weg in einem Rutsch hierhergekommen. Am großen, runden Tisch sitzen wir beim Essen zusammen mit der Jugendgruppe aus Paris, die gestern den Gottesdienst gestaltet hat. Da wir in der Acht-Uhr-Schicht gegessen haben, ist noch Zeit für einen Wein auf der Terrasse als Abendausklang.
Bei einem Camino-Nachtreffen in Köln Anfang November erzählt Barbara aus Freiburg Kim aus Neuseeland, wie begeistert Angela von diesem Tag war und wie sie über meine Begleitung ihr gegenüber geschwärmt hat. Das streichelt meine Seele und schafft zwei Monate später den Ausgleich für den „Du siehst aus wie ein Tourist"-Spruch der Französin in Saint Jean. So hat sich in Köln wieder einer der ganz normalen Camino-Kreise geschlossen.
Dank an das Universum, das mir Angela heute geschickt hat, die mir gezeigt hat, wie wohltuend Langsamkeit sein kann.
Der Weg auf der Etappe Orisson → Roncesvalles / Orreaga