Der Vorteil am frühen Aufstehen ist, dass man unterwegs wunderschöne Sonnenaufgänge mitbekommt. Ist es nicht toll, dass jeden Morgen die Sonne wieder mit neuer Kraft aufgeht und neue Kraft spendet? Uns gibt sie Kraft, auf den Alto del Perdón (1085 m) zu gelangen. Oben gibt es das berühmte Pilgerdenkmal und eine wunderbare Aussicht lädt zum Staunen ein. Die Windmühlen beeindrucken Michelle, denn klar, wir laufen heute wieder zusammen. Oben haben wir noch einen Schnack mit unserem Herbergsvater, der mit dem Auto hier hochgekommen ist. Ein Kaffee beim fliegenden Händler aus seinem Transporter ist zwar nicht stilvoll für Pilger, tut aber trotzdem gut. Beim Abzweig zur Iglesia de Santa María de Eunate eine kurze Überlegung: Wollen wir den um 45 Minuten längeren Weg wählen? Ja, auch wenn Michelles Füße deutliche Spuren des Weges zeigen, wollen wir diese Kirche nicht verpassen. Der Weg zieht sich, wie Abstecher das nun mal tun. Vor der Kirche treffen wir zwei junge Deutsche, einen mit Skizzenblock. Wir bestaunen seine Zeichnung – Bewunderung! Dann Rucksack ab, Schuhe aus und dreimal barfuß um die Kirche – schweigend schaffen wir das nicht ganz. Die Kirche ist auch noch offen, unser Glück perfekt. Auf dem Mäuerchen, das die Kirche umgibt, ein Picknick – pilgern ist einfach nur schön.
Doch dann ruft das Tagesziel Cirauqui. Meines wäre zwar nur Obanos gewesen, aber Michelle hat es ja eiliger und ihre nette Gesellschaft, die positive Energie, die auf mich ausstrahlt, sind heute wichtiger für mich als um eine drei Stunden kürzere Etappe. Bald zieht sich der Weg scheinbar endlos neben der Autobahn daher, klar geht es hoch, klar ist es brütend heiß. Manni sitzt auf einem Stein links am Wegesrand. Wir fragen: „Alles okay, hast Du genug Wasser?" „Ja, alles prima", kommt nicht so ganz überzeugend zurück. Wir warten auf der Anhöhe, denn auch wir können eine Pause vertragen. Später werden wir in einem kleinen Ort von einem schönen Pilgertrinkbrunnen entschädigt und ein paar Straßen abseits vom Weg ist eine sehr schöne Kirche. Wir gehen alle drei hinein, finden etwas Ruhe, finden etwas Abkühlung und man kann sogar echte Kerzen anzünden, nicht die LED-Kerzen, die leider so oft in Kirchen zu finden sind. Dann ziehen wir zügig weiter, so zügig, dass ich am Ausgang des Ortes, in dem eigentlich die Herberge sein sollte, zu Michelle sage: „Ich glaube, wir sind im falschen Dorf." Sie bricht fast zusammen, und während ich nach dem Führer im Rucksack fahnde, ortet sie zwei einheimische Spanier und fragt lustig auf Englisch los. Von einer Frau werden wir dann einen ganz anderen Weg zurück in den Ort geschickt. In unserem Trott sind wir an der Herberge vorbeigelaufen. Wir treffen Manni dort. Er hat es noch anders gemacht, ist in ein Privathaus rein in der Meinung, dass dieses die Herberge sei, und ist, laut schimpfend, zum richtigen Haus geschickt worden. Bei der Zuteilung der Betten blickt Michelle ganz verzweifelt drein, denn sie soll wieder oben schlafen. Sie verhandelt mit der Herbergsmutter, die auch tatsächlich ein weiteres Zimmer aufschließt, und wir können unten schlafen. Manni und Cornelia, eine Radfahrerin, die den Camino schon einmal gemacht hat, gesellen sich zu uns. Zur Herberge gehört auch ein kleines Restaurant und wir haben ein gutes Abendessen. Manni und ich haben jeder noch eine Flasche Wein für „nachher" gekauft. Wir sind so vernünftig, Mannis Flasche für die Pilger des Folgetages dort zu lassen.