Ich schlafe gut in dieser Nacht, aber der Rhythmus stimmt nicht. Um 4:00 Uhr denke ich, es ist 7:00 Uhr, und komme nur schwer noch mal zur Ruhe. Endlich, um 8:00 Uhr gibt es Frühstück. Nach dem Frühstück kurze Umarmung, dann geht Michelle als Erste ab. Ich trödle herum. Trödle aus der Stadt und auf dem ersten freien Feld läuft sie dann ein paar hundert Meter vor mir. Dreht sich auch noch um, nach dem Sonnenaufgang wohl. Also weitere Verabschiedung, Umarmung mit Rucksack will geübt sein. Dann ist sie weg. Ich habe das Thema „Trennung" auf dem Tagesprogramm und das Thema „American way of life". Meine Zeit bei englisch-amerikanischen Unternehmen ist bei mir in den vergangenen sechs Tagen vorbeigezogen und ich habe Frieden mit dieser Zeit geschlossen. Zum Thema „Fun" oder, drastischer ausgedrückt, „aus der Welt einen Rummelplatz machen" haben Michelle und ich den tiefschürfenden preußisch langweiligen Ansatz mit dem fröhlichen „Lets go to San Francisco"-Ansatz in Einklang gebracht. Die Trennungen in meinem Leben sind nun auch in einem neuem View (mir fällt kein besseres Wort ein). Michelle und ich kennen uns erst sechs Tage, doch es ist eine echte Trennung, es ist eine sinnvolle Trennung. Wir werden immer Freunde bleiben, das ist sicher. Ein nettes Kompliment bekomme ich – wieder zu Hause – von Michelle per eMail: „... It was my favorite time on the camino. ..."
Nun habe ich das alles aus mir herausgelaufen in einem ruhigen Zottelgang. Ich will heute nur eine kurze Etappe machen. Im nächsten Dorf treffe ich Manni und die vier jungen Deutschen, die ich aus der holländischen Herberge schon kenne. Manni hat eine ausgiebige Pause gemacht und zusammen ziehen wir weiter. Der Schotterweg zieht sich an einer dicken Straße mit vielen Lastern entlang, genervt geben wir nach knapp 19 Kilometern auf und biegen nach rechts in eine Nebenstraße zu einer kleinen Privatherberge ab. In der Herberge ist viel Platz, was uns gut tut. Draußen im Garten finden wir ein ruhiges Plätzchen. Der Austausch der Lebensgeschichten ergibt sich. Manni kämpft an vielen Fronten, an einigen bin ich schon weiter und kann vielleicht mit meiner Geschichte helfen.
Beim Abendessen beweisen die Spanier wieder einmal, dass sie Gemüse so lange kochen können, bis im Wasser mehr Inhaltsstoffe sind als im Kraut. Sahen wir eben noch einen leckeren Blumenkohl aus dem Gemüsegarten schnittfrisch in die Küche wandern, ist es jetzt nur trauriges Kantinenessen – was fast geschmeichelt ist. Der zweite Gang ist okay, der Wein auch, und so beglückwünschen wir uns zu der Entscheidung, ein paar Schritte abseits vom Weg Ruhe gesucht zu haben. Wäre da nicht dieser Franzose, der am Nachmittag schon versuchte, uns dafür zu begeistern, dass sein Haus nur zehn Kilometer entfernt von den Stellungslinien der Deutschen und Franzosen im Ersten Weltkrieg liegt. Schlagartig konnte Manni kein Wort Französisch mehr. Eine Holländerin ist beim Abendessen so unvorsichtig, sich der französischen Sprache mächtig zu erweisen. Sie wird gnadenlos zugetextet, denn der Herr weiß zu jedem Thema viel zu sagen.