Keiner hat es morgens gemerkt: Ganz still ist Anna schon weg. Wir frühstücken noch, ein Luxus, den man in kaum einer Herberge hat. Dann verteilen wir uns auf dem Weg, denn jeder will Zeit für sich, jeder geht sein Tempo, jeder seinen eigenen Camino. Es gibt nicht DEN Weg, es gibt nur einen mit vielen gelben Pfeilen manchmal auch liebevoll gekennzeichneten Weg nach Santiago, aber jeder geht seinen Weg auf diesem Weg. Meiner führt mich heute von Kilometer 455 zu Kilometer 424, also liegt noch mehr als die Hälfte vor mir und laut Führer lauern noch gefürchtete Strecken auf mich. Die Beschreibung „Endlose Weiten" des Führers kann ich nur bestätigen, ja, sie ist anders, diese Landschaft, ja, es ist anders, durch diese Landschaft zu gehen. Ich gehe heute alleine, bin aber glücklich – und das ist untertrieben – wenn ich jemand Bekanntes treffe, vor allem Jürgen und Gisa in Frómista und Lijgien, mit denen ich die letzten Kilometer zusammen ablaufe. Als ich in der Herberge ankomme, liegt Anna schon in dem Bett unter mir und schläft. Ich verstehe die Dusche nicht, bin zu faul, mich noch mal anzuziehen, um die Marke irgendwo im Haus einzuwerfen, und dusche lieber kalt, das erfrischt. Wie gewöhnlich Wäsche waschen, dann raus, Rundgang durch den Ort. In Frómista habe ich mir von Gisa noch ein Kompliment eingefangen: „Du siehst immer so frisch aus." Ich werte das als Kompliment an meine Hemdenhersteller, denn die bügelfreien Teile, nass aufgehängt, was bei dem sonnigen Wetter kein Problem ist, sehen immer wie gerade dampfgebügelt aus. Aber auch mein Gesicht strahlt seit einigen hundert Kilometern, doch überwiegend und körperlich bleibe ich immer mehr als 10 Prozent unter meiner Leistungsgrenze, eine Weisung, die mir mein Doc mit auf den Weg gegeben hat. Ein Mitpilger, dem ich das mal erzähle, fragt: „Und wo sind die 10 Prozent drunter?" „Nun", antworte ich, „dafür bin ich – unter anderem – hier, um zu lernen, genau das herauszufinden."
Jürgen hat heute das Thema „Kraftlinien" drauf, er will mehr darüber wissen. Wir laufen an ihnen entlang, wir sind durch viele Orte gekommen, wo sie sich kreuzen. Manchmal habe ich schon eine Ahnung gehabt, sie zu spüren. Sie waren da, lange bevor die Christenheit den Jakobsweg entdeckt hat. Jasmin aus Fuerteventura hatte es neulich in unserem Gespräch ganz deutlich formuliert. Der Weg hat ihr Kraft gegeben, das Jahr beruflich – fast – durchzustehen. Sie ist wieder hier, um neue Kraft zu schöpfen.
Eine nette Herberge am Weg verlockt überraschend, hier zu verweilen, aber es gibt keinen Laden und kein Restaurant. Lijgien und ich haben nichts Richtiges zu essen dabei und so ziehen wir weiter, nachdem Lijgien eine Runde Tischtennis mit dem Hospitalero gespielt hat. So viel Kraft ist immer vorhanden, auch wenn Lijgiens Magen heute versucht, ihr den Tag schwerer als nötig zu machen. Sabine aus Berlin (die nie einen Sonnenstrahl auslässt), Gisa und Jürgen bleiben da, wie wir in den nächsten Tagen erfahren. Der Hospitalero fährt sie mit dem Auto zum nächsten Supermarkt und das wohl in einem rasanten Tempo. Na ja, wir wissen ja, wie schnell die Spanier auch auf schmalen Straßen fahren können, oft genug springen wir ja sicherheitshalber in die Büsche.
Ich bin in Villalcázar de Sirga angekommen und schreibe meine Notizen in der Bar gegenüber der Herberge. Maria kommt an, das Handy am Ohr, aber Zeit für ein freundliches „Hallo!" Das Besondere am heutigen Tag war der wunderschöne Himmel mit immer neuen Wolkenformationen. „Look in the sky" hatte jemand auf ein Schild geschrieben für die, die es nicht selber merken. Ich habe es wahrgenommen. Jürgen hat auch die Muße gehabt, das Schild digital festzuhalten – DANKE, JÜRGEN – nicht nur dafür.
Die Nacht wird dann unruhig. Im anderen Schlafraum werden Bettwanzen gesichtet, einige wollen in die freien Betten in unserem Raum umziehen, aber auch da werden die lieben Tiere gesichtet. Maria schläft auf dem Flur, einige draußen. Ich bin nur kurz aufgewacht, habe mich als nicht betroffen eingestuft, umgedreht und weitergeschlafen. Ich habe Glück und meine Einschätzung war richtig. Ein nettes Pärchen sehe ich hier zum ersten Mal: Jeanin aus Berlin und Colin aus Köln. Die beiden haben sich letztes Jahr auf dem Camino kennen gelernt, tingeln seitdem zwischen alter und neuer Hauptstadt und probieren dieses Jahr mal aus, wie das Zusammenleben sein könnte. Sie zelten oft, manchmal übernachten sie in der Herberge, manchmal im Hotel. Ihr Markenzeichen ist, immer spät loszukommen und somit spät anzukommen. Dafür strahlen sie eine Zufriedenheit und Ruhe aus, die man sich nur für sich selber wünschen kann.