Ruhetag, heute mein erster, nachdem ich nun 22 Tage lang jeden Tag gelaufen bin, nachdem ich über 500 Kilometer hinter mich gebracht habe, kein Bus, kein Auto, kein Taxi von innen gesehen habe. Mal sehen, wie das wird, mal sehen, was ich mit mir anfange so ganz ohne die Struktur des Laufens, des sich neu Einrichtens im nächsten Ort. Die anderen ziehen weiter, sieht man sich irgendwann wieder? Ein Wiedersehen mit Simone wird gänzlich unwahrscheinlich. Doch für mich ist es wichtig, auch einmal zu spüren, auf einem Platz sitzen bleiben zu können, nicht laufen zu müssen, um keine Unruhe aufkommen zu lassen.
Morgens sortiere ich erst einmal meine Sachen neu und überlege bei jedem Stück, ob ich es auf den letzten 500 Kilometern gebraucht habe. Wenn nein, kommt es in eine Tüte, die ich hier zurücklassen werde. Es sammeln sich dort mein Spanisch-Wörterbuch, zwei Packriemen, ein Kompass, die Schuhputzbürste, das Desinfektionsmittel von Michelle. Zwei kleine Händehandtücher im Beutelchen will Liz haben, hat sie gesagt, als ich erzähle, dass ich vorhabe, mich zu entrümpeln. Das Cruz de Ferro kommt ja näher und ich stelle mich innerlich auf das Thema „Last abwerfen, Loslassen" ein. Nach dieser schweren Tätigkeit mache ich mich auf die Suche nach einem Frühstück und laufe direkt vor dem Hotel Jasmin in die Arme. Sie hat unabhängig von mir beschlossen, auch hier einen Ruhetag einzulegen. Wir trinken also gemeinsam noch einen Kaffee und sie geht dann in ihre Herberge (sie darf dort zwei Nächte bleiben), um sich auszuschlafen. Wir sehen uns an dem Tag noch häufiger und kommen ins Gespräch, heute ist das Thema „Freunde" von ihr im Raum und „Loslassen" von mir. Nicht nur mir haben diese Gespräche gutgetan, offensichtlich auch ihr, denn abends nach dem erneuten Pilgerdinner im „Gaudi" sagt sie zu mir: „Danke für den schönen Tag." Mein Dank ist mindestens genauso groß. Arnold aus Berlin treffen wir. Wir kennen ihn beide und seine Eigenart, alleine zu bleiben, nur einen Halbsatz von sich zu geben. Abends sitzt Trudy aus Eindhoven mit am Tisch. Später erzählt mir Ineke, dass sie sich mit Trudy über Astorga und das gute Dinner dort unterhalten hat. Beide sagen: „Hermann war auch da!" und wundern sich, denn sie saßen dort nicht zusammen am Tisch. Als ich Ineke erzähle, dass ich einen Ruhetag eingeschaltet und das Dinner im „Gaudi" zweimal genossen habe, ist die Welt wieder in Ordnung und die Geschichten passen zusammen.
Das Leben auf dem Camino ist so schön, weil es so einfach ist: Laufen, Essen, Wasser, Füße, Bett sind die Basis. Es ist Zeit fürs Nachdenken, Zeit für Gespräche, Zeit für Geschichten – Zeit zu haben, ist Luxus pur.