Ich bin nachts um vier Uhr hellwach, zwinge mich auf die Matratze, um fünf Uhr das gleiche Spiel, um sechs stehe ich endlich auf. Ich brauche das Tütenrascheln und das Discolight der anderen Pilger nicht mehr, um wach zu werden, mein heimischer Biorhythmus gilt auf dem Camino nicht. Den Begriff „Discopilgram" habe ich gestern von Jasmin geerbt. Einige wenige Pilger, die ganz früh mit ihren Stirnlampen ihre Sachen zusammensuchen und den Rucksack packen, sorgen schon für ein echtes Discofeeling, bevor die Lebensgeister bei mir geweckt sind.
Heute geht es immer leicht bergan. Eine schöne, abwechslungsreiche Strecke. Komme ich an der 1001ten Kirche vorbei? Eine alte Eiche hätte ich fast verpasst, wenn nicht ein französischer Pilger mich hinzugewunken hätte – danke. Die Mischung aus Laufen und Ruhe, zu sehen, was am Wegesrand alles Schönes ist, fällt mir manchmal schwer. Ich bin dann zu sehr in Gedanken, heute immer noch beim Thema „Loslassen", und so verpasse ich schon schöne Momente im JETZT. Ich bin in der Truppe rund um Liz, Martina, Martin gelandet und so bleibe ich mit denen in Rabanal, obwohl mein Gefühl sagt: weiter. Was soll es, liebes Gefühl, der Verstand hat beschlossen, nur 20 Kilometer am Tag zu laufen, und das ist erledigt. Da es kein Richtig und Falsch mehr für mich gibt, sondern nur ein „So ist es", bin ich mit der Herberge zufrieden. Zur Kirche, zum Supermarkt, zu den Restaurants, zur anderen Herberge geht es ein paar hundert Meter hoch. Ich absolviere diesen Marsch mindestens ein Dutzend Mal an diesem Nachmittag und Abend. Mein 25-Kilometer-Zeh meldet sich noch nicht. Jasmin kommt strahlend, aber mit zerfetzter Hose an. Großer Auftritt beim Foto anlässlich der Versenkung ihrer Hose im Mülleimer. Ihr Rucksack hat auch ein wenig schlapp gemacht. Genau heute wäre der Einsatz für die in Astorga zurückgelassenen Packriemen gewesen. Wir kaufen gemeinsam für ein gutes Frühstück ein. Sogar ein Frühstücksei wird es morgen geben! Die Damen haben die Küche in der Herberge für tauglich befunden.
Ich lerne Irmtraud kennen. Sie strahlt eine Ruhe aus, die neidisch macht. Sie hat nie Angst, kein Bett mehr zu bekommen, denn in dem Fall schläft sie halt im Freien. In León, so erzählt sie, ist sie um 18:00 Uhr losgegangen. So spät ist es auch, als wir uns jetzt unterhalten. Sie schaut viel in der Landschaft herum, hat überall Zeit. Sie geht weiter und ich rufe ihr nach: „Und pass aufs Universum auf!"
Später gehen Jasmin, Liz und ich gemeinsam zum Essen, ein Pilgermenü von der guten Sorte. Neben uns ein langer Tisch mit vielen Pilgern, Kirstin aus Hamburg, eine große Blonde mit der angenehmen dunklen Stimme, werde ich später noch näher kennen lernen, mit anderen auch noch einmal am Tisch sitzen, Langstreckenpilger, die von zu Hause aus losgegangen sind. Daten wie 2500 Kilometer fallen und vom zweiten Paar Schuhe ist die Rede. Da bin ich mit meinen bisherigen 550 Kilometern ein blutiger Anfänger, der gerade einmal losgegangen ist.