Der Morgen beginnt mit einem lauten Knall, das hatte ich noch nicht. Irgendetwas im Obergeschoss ist mit Getöse umgefallen – eine neue Variante, die Nacht vom Tag zu trennen. In aller Ruhe haben wir den großen Tisch im Speiseraum erobert, das Frühstücksei ist genau richtig, die Welt wieder einmal einfach nur in Ordnung. Langsam ziehen wir los. In Foncebadón dann überfällt mich die Unruhe, ich verabschiede mich knapp von den meisten, habe nicht einmal die Ruhe, auf Liz zu warten, die etwas nachhängt, und ziehe schneller los. Ich will am Cruz de Ferro alleine sein, ich brauche mal wieder Zeit nur für mich. Die habe ich bis hoch zum Cruz auch. Dort angekommen, geht es aber recht turbulent zu. Jeder muss mal am Kreuz stehen und ein Foto muss gemacht werden, also gibt es von mir da schon einmal keines. Nachdem ein Trupp Radfahrer weitergefahren ist, wird es etwas ruhiger. Ein Österreicher steht mit einem Beutel auf dem Steinberg, liest einen Text von einem Stein ab und wirft ihn über die Schulter, so geht das ein Dutzend Mal. Ich treffe ihn ein paar Tage später wieder in einer Herberge. Er erzählt, dass jeder seiner Nachbarn ihm einen Stein mitgegeben hat. Er ist aber auch erst seit ein paar Tagen unterwegs.
Ich habe auf diese Weise Zeit, selber zur Ruhe zu kommen, passe einen günstigen Augenblick ab, lege meinen Stein zu sieben anderen Steinen mit japanischen Schriftzeichen. Ich habe Last abgeworfen, nicht nur Last der Vergangenheit. Meine Einstellung zur Last hat sich durch diese symbolische Handlung geändert, durch die intensive Beschäftigung mit dem Wort „Last" in den letzten Tagen ist das möglich geworden.
Dann geht der Camino manchmal steil über tausend Meter bergab, vorbei am Denkmal für den verunglückten Radfahrer und an Esskastanienbäumen. Abwärts zu laufen, macht mir nichts aus, das rechte Knie zupft zwar manchmal, aber das kenne ich von früher und ich gehe dann einfach mit dem Bein etwas anders – frei nach Feldenkrais: Man kann jede Bewegung auf mindestens fünf verschiedene Arten ausführen. In El Acebo sehe ich die Kölner, die seit Monaten mit ihren Eseln auf dem Weg sind. Es ist wohl oft sehr schwierig, einen Ruheplatz für die Tiere zu bekommen. Seit Astorga begegne ich auch öfters drei Reitern, die ihren Tross dabei haben, der alles Organisatorische regelt. In Molinaseca treffe ich Irmtraud, als ich gerade in den Ort zurückgehe, weil ein Kaffee doch noch ganz nett wäre. Den nehmen wir dann gemeinsam, erzählen uns ein bisschen mehr von uns. „Hast Du das gestern mit dem Universum ernst gemeint oder war das nur so dahingesagt?", fragt sie. Ich lüge: „Nur so dahingesagt." Ich meinte das wirklich ehrlich, denn Irmtraud passt darauf auf und irgendwie habe ich den Wunsch, mit ihr da gleichzuziehen. Wir trennen uns beide mit dem Ziel Ponferrada, von wo sie morgen per Bus nach Hause fahren will. Aber sie ist wohl doch in der Herberge in Molinaseca geblieben, in der sie sich noch von Camino-Bekanntschaften verabschieden wollte.
Ich komme nach 33 Kilometern in Ponferrada an, verpasse die Markierung, finde diese wieder, laufe und laufe und bin aus der Stadt fast heraus. Da bin ich wohl wieder mal an der Herberge vorbeigelaufen. Ponferrada ist schon eine etwas größere Stadt und so ist das Durchfragen nach der Herberge etwas langwieriger. Kaum eine Stunde später komme ich so gegen 19:00 Uhr bei der Herberge an, relativ gelassen (längst nicht so wie Irmtraud). Es ist eine Massenherberge, von Deutschen geführt. Ich werde zu meinem Bett geleitet, eine Stimme kommt von rechts aus dem Speisesaal: „Hast Du schon gegessen?" – „Nein." – „Okay, wir haben noch etwas." – „Darf ich erst duschen?" – „Klar!" Mein Zimmer ist im Keller Marke Betonbunker, die Dusche ist kalt, Warmwasser reicht nur für die ersten vierzig Pilger, aber alles ist tipptopp sauber. Als ich in den Essraum komme, stehen Teller und Wein bereit. „Hallo, alter Mann!", grüße ich. Er bricht zusammen: „Jetzt nennen mich auch schon Ältere so." – „Na, ich weiß ja nicht, wie Du richtig heißt", ist meine trockene Antwort. Ich bekomme die Auflösung: „Stephan". Er verrät mir dann auch, wie ich bei ihnen heiße: „Der Karierte" – Warum wohl? Stephan feiert mit seinen drei Mitpilgerinnen (Mel, Britta und Silke) Abschied, denn für zwei geht es ein paar Etappen per Bus weiter, weil der Terminplan drückt. Mir wird der Weg zum Supermarkt erklärt, um den Weinvorrat der gewachsenen Gruppe anzupassen, und all mein Dummstellen hilft nicht, die Damen bleiben hartnäckig der Meinung, dass ich das schaffen kann. Und wie das mit Damen so ist, sie behalten recht und ich brauche nicht abzuwaschen. Vom Essen ist noch so viel da, dass Trudy und Chris auch noch satt werden, dafür müssen die beiden dann abwaschen. Ein gelungener Pilgerabend – na ja, die Lasten sind halt fort.