Discopilger haben heute Pause, denn Punkt 6:00 Uhr geht, platsch, die grelle Neonbeleuchtung an und es wird uns in vier Sprachen verkündet, dass es 6:00 Uhr ist. Also Kampf um einen Waschplatz, dann Rucksack geschnappt. Für ein kleines Frühstück finde ich ein Plätzchen im Essraum, dann los. Den Weg zum Stadtzentrum und raus aus der Stadt kenne ich, bin ihn ja gestern schon zweimal gelaufen. Trotzdem bleibe ich der Tradition treu, mich beim Hinausgehen aus der Stadt zu verlaufen. In meinem Trott achte ich nicht auf die Pfeile, sondern folge zwei Rucksäcken dänischer Herkunft. Der Abstecher dauert weniger als eine halbe Stunde, ich kann also zwei Kilometer meiner Tagesleistung zurechnen. In Ponferrada habe ich vergessen, Geld zu ziehen, mal sehen, wann die nächste Möglichkeit kommt. Ich durchforste alle meine Papiere und stelle mit Bestürzung fest, dass ich meine Geburtstagsliste nicht pflichtschuldig abgearbeitet habe. Kalle wird es mir hoffentlich nicht sehr übel nehmen. Eine Postkarte habe ich noch vorrätig, Marken kaufe ich auch schnell noch. Ich habe als Pilger immer so wenig Zeit, mein Handy auszugraben, anzustellen und die Adressen herauszusuchen. Kalles Karte muss weiter warten. Geld bekomme ich auch in dem kleinen Ort aus einem Automaten gezaubert.
Ulla ist gestürzt, sie sieht schlimm aus. Sie hat in den Himmel geschaut und einen Bordstein übersehen. Glücklicherweise war eine andere Pilgerin gerade in der Nähe und ist bei ihr geblieben.
Die beiden Mädel aus Münster machen auf einem Rastplatz an meiner Bank Pause. Sie haben die beiden anderen in den Bus gesetzt und sehen zwar fröhlich, aber irgendwie einsam aus. Ich kenne sie halt nur als Vierergruppe.
Heute ist es bedeckt, wird es regnen, welche von meinen Regenklamotten muss ich anziehen? Eine Bar ist gerade in Reichweite, als diese Entscheidung zu treffen ist. Anorak und Rucksacküberzug müssen reichen, den Schirm griffbereit in der Hand. Paul und Ingo ziehen vorbei, ich hole sie ein, unterhalte mich etwas mit Ingo, den ich aus Astorga kenne. Er hatte da im „Gaudi" nur noch die Besenkammer erwischt. „Von Dir habe ich mir den Schritt abgeguckt", teilt Ingo mir mit. Ja, derzeit bin ich wandermäßig gut drauf und meine Schritte federn so richtig durch die spanische Landschaft. Ein Regenbogen rechts macht das schöne Leben perfekt.
Die 24,7 Kilometer bis Villafranca gehe ich ganz in Ruhe. Ich kann mich nicht für eine der beiden Herbergen entscheiden, gehe also runter in die Stadt. Irgendetwas in mir will weiter. Ich finde auf der Plaza eine Bar, Kaffee und Orangensaft stehen wie gewohnt vor mir und ich studiere in Badeschlappen meinen Führer: nächste Herberge 1,5 Stunden. Das ist gut machbar, denn es ist erst 15:00 Uhr – halt, das ist der Weg an der „lauten Straße" entlang, von der Herr Kerkeling so eindrucksvoll berichtet. Ich habe vor, über den Hubbel den Camino duro zu gehen, und da sind es noch 3,5 Stunden bis zur nächsten Herberge. Das ist mir für heute zu viel. Also Rucksack geschnappt und zurück hoch auf den Hügel zu den Herbergen. Nun muss ich doch wählen, die Entscheidung fällt auf die städtische Herberge linker Hand. Ich komme fröhlich schlendernd dort an und werde von den drei Österreichern begrüßt: „Du kommst aus der falschen Richtung. Warum siehst Du so frisch aus, während wir hier so abgekämpft sind?", ist die Frage. Zum Glück haben wir uns unterwegs gesehen und so fällt die Unterstellung Bus/Taxi nicht. „War nur unten im Ort und habe einen Kaffee getrunken, das wird es sein", ist meine Antwort. Wir landen im gleichen Zimmer. Im Essraum mache ich dann mein Picknick: Resteessen. Eine Schwedin ist noch da, knabbert an ihren Chips. Ich biete ihr Brot und Käse an, sie lehnt dankend ab, fragt nach dem nächsten Supermarkt. „Weiß ich nicht, das ist noch aus Camponaraya." Sie wundert sich laut, wie man jemand völlig Fremdem etwas anbieten kann, sagt, sie will auf dem Weg allein sein, will keine sozialen Kontakte, die hat sie zu Hause genug. Alleinsein, das fällt auf dem Camino schwer. Ja, der Camino Francés ist voll. Ich habe bisher nur Arnold aus Berlin getroffen, der allein sein will und es auch schafft.
Dann Turnschuhe an, Stadtrundgang und wieder auf die Plaza. Die Karte an Kalle ist jetzt dran und das Büchlein möchte auch den Tagesbericht haben. Von hinten nähert sich jemand: Lijgien klopft mir auf die Schulter – Umarmung auf Spanisch ist angesagt. Wir zählen nicht nach, wie lange wir uns nicht gesehen haben, nur in zwei Sätzen erzählen wir, was zwischenzeitlich gewesen ist. Es ist einfach nur Freude über das Wiedersehen, eine Freude, so als ob wir uns dreißig Jahre kennen und zwanzig Jahre nicht gesehen hätten. Lijgien erzählt, dass sie heute beinahe aufgegeben hätte. Da Mittwoch ist, war der Anruf bei ihrer Mutter fällig und die hat ihr gut zugeredet weiterzugehen. Am Nachmittag hat sie dann bei ihrer Mutter Entwarnung gegeben: „Alles wieder in Ordnung!" Die nächste Bemerkung von ihr verstehe ich als Kompliment: „Ich habe überlegt, wo Hermann sein könnte – schön, dass ich richtig getippt habe und es stimmt." Wir haben die gleichen Führer, ihrer aber in Englisch. Ich hatte den gleichen Gedanken in den letzten Tagen auch schon. Das Alleinlaufen ist genau richtig für mich, aber auch die Gespräche mit den Menschen. Manchmal kommt man sich halt so nah, dass man sich wiedersehen möchte. Der Camino macht das schon ganz ohne Verabredungen, ganz ohne Internet und SMS oder gar Telefon. Es ist so, wie es ist, und wie es ist, ist es gut.
Bei der Suche nach dem richtigen Restaurant treffen wir Ingo und Paul, die das gleiche Fragezeichen auf der Stirn haben. Wir landen eine halbe Stunde später – nach einem ausgiebigen Stadtrundgang zu viert in dem Restaurant, vor dem wir vorher auf der Plaza gesessen hatten. Beim Essen gibt Paul seine, besser die Geschichte seines Rucksacks, zum Besten. Das gute Stück ist erst ein paarmal um die Welt gereist, bis es zu Paul nach Pamplona gekommen ist. Dann fand Paul ihn zu groß, er kaufte einen neuen, kleinen Rucksack. Der war nach ein paar Tagen kaputt, jetzt ist Paul bei Rucksack Nummer drei.
Paul und Ingo sind in einem Hostal, das Ingo so umschreibt: Es ist 25 Euro wert, kostet aber 39 Euro. Lijgien und ich gehen zurück hoch auf den Hügel zur Herberge. Wir haben die gleiche Herberge ausgewählt. Morgen steht sowohl für Lijgien als auch für mich der Camino duro an, weiter planen wir nicht, auch nicht, bis wohin es morgen für jeden von uns beiden gehen wird.