Ich bin heute in einem Langschläferzimmer, tatsächlich bin ich als Erster aufgestanden. Dann die Überraschung: kein Wasser. Die hygienischen Verhältnisse werden dadurch nicht besser, also nichts wie Sachen packen und los. Die andere Herberge hat auch kein Wasser, der ganze Ortsteil auf dem Berg ist betroffen. Die paar Minuten bis zur Stadt schaffe ich, dort gibt es einen Kaffee. Ein Blick auf die Uhr: kurz vor acht, ein Blick aufs Thermometer: acht Grad. Im Ort treffe ich Ingo und Paul schon mit ihren Stöcken bewaffnet. „Doch den Duro?", frage ich. „Nein, das wollen unsere Knie nicht." Kurz vorm Ortsausgang treffe ich die beiden Mädel aus Münster, sie sind heute Morgen schon eine Weile unterwegs und steuern die nächste Bar an. Ich studiere das Schild, das vor dem Camino duro abschrecken soll. Anfangs geht es recht steil bergan, aber es ist ja kühl und so ist es schön, dass mir langsam warm wird. Der Blick, der Weg, die Aussicht – alles ist traumhaft. Nur wenigen Pilgern begegne ich. Ich suche mir ein schönes Plätzchen und mache eine ausgiebige Pause, denn ich habe gestern – selbstredend – noch in Villafranca eingekauft. Leider sind die 3 1/4 Stunden viel zu schnell um. Kurz bevor ich runter auf die Straße einschwenke, läuft mir Kirstin in die Hacken. Sie ist richtig flott, auch von der Geschwindigkeit her betrachtet. Das liegt auch daran, dass sie das Schild „Rucksacktransport" nicht nur gelesen, sondern auch umgesetzt hat. Flott beschwingt von dem schönen Weg schwenken wir auf die Straße ein. Paul und Ingo kommen sichtlich geschafft auf der anderen Straßenseite daher. Die sind die Straße gelaufen, und dass einem dort die Lastwagen fast über die Füße fahren, ist kein Märchen. Neidisch schauen sie zu uns und ich rufe nur hinüber: „Das fängt man sich auf dem Camino duro ein." – Kirstin macht aufs Stichwort perfekt den Sprung aus der Torte – „Hätte ich das gewusst, wäre ich den Duro auch gegangen", kontert Ingo. Mir geht es einfach nur gut. 500 Meter weiter holen wir eine Amerikanerin ein, die Kirstin kennt, und die beiden ziehen eilig weiter, nicht ohne vorher noch kurz gefragt zu haben: „Wo ist eigentlich Deine Frau?" Ich blicke wohl sehr verdutzt drein und kann nur vermuten: „Meinst Du die gestern in Villafranca? Das war Lijgien aus Amsterdam." Und so ist auch das geklärt. Ich merke es eigentlich selber erst in Santiago, wobei von Selbermerken auch nicht die Rede sein kann, man sagt es mir, dass der Anteil der Pilgerinnen in meinem direkten Umfeld über dem statistischen Durchschnitt liegt. Katharina hat nur trocken gefragt: „Muss ich mir Sorgen machen?", und mein Nein kam schnell und überzeugend genug.
Aber noch steht auch für mich ein Stück Horrorstrecke bevor. Ich schalte meinen schnellen Gang ein, mache die Ohren dicht und richte den Blick starr nach vorne. Eine halbe Stunde lang donnern die Lastwagen an mir vorbei und ich schätze wohl einhundert Mal ab, ob ich den Sprung in die Büsche schaffen könnte. Doch ich bleibe ruhig, weil ich mich einfach nur auf das schnelle Gehen konzentriere. Dann kann ich links einschwenken, eine Bar ist gleich zur Stelle, meine Badeschlappen an, Kaffee und Orangensaft stehen vor mir. Die Welt ist in Ordnung!
Ineke treffe ich in der Bar wieder. Sie wählt einen Salat – Vitamine sind ja eigentlich gut – und bezahlt teuer dafür, denn die Ölflasche hat ihre Tücken und das Öl ist nicht wirklich eine Zierde für ihre Hose. Ineke erzählt mir ein paar Tage später beim nächsten Treffen ein paar Orte weiter, dass sie sich lieber von der Hose getrennt hat, als mit den Flecken herumzulaufen. Und das, obwohl die Shopdichte für Treckinghosen derzeit recht dünn ist. Das Thema „Last abwerfen" liegt ja erst ein paar Tage zurück. Kirstin kommt mit der Amerikanerin vorbei, fragt, wie der Ort heißt, Schulterzucken bei uns. Sie muss es herausfinden, denn sie mag nicht an dem Ort vorbeilaufen, in dem ihr Rucksack auf sie wartet. Gut, dass ich das Problem nicht habe.
Irgendwann macht sich jeder wieder auf seinen Weg. Ein ausgesprochen schöner Weg, nicht so schön wie am Vormittag, aber immerhin. Die Hunde sind auch friedlich, die meisten schlafen, heben nur ganz wenig den Kopf und machen ein Auge halb auf, wenn ich vorbeikomme. Nur einmal höre ich ein Lechzen hinter mir näher kommen. Gut, dass ich in dem Augenblick gerade mit Stöcken laufe. Dann schießt schon ein großer Schäferhund an mir vorbei und Sekunden später der nächste. Mir fällt ein, ein paar Minuten vorher ist ein Jeep den Weg entlanggekommen. Offensichtlich hat der Bauer seinen Hunden etwas Jeepnachlaufen gegönnt.
Dann wird der Weg zur Hohlgasse und ich weiß, jetzt wird es steil, denn ich habe ja gestern ausnahmsweise den Führer gründlich gelesen. Berggang eingelegt und los. Es sind nur 350 Höhenmeter, die man von Ruitelán bis La Faba hoch darf. Und als ich in La Faba noch mal in den Führer schaue, stelle ich fest, dass ich doch mal wieder nicht richtig gelesen habe. Wenn man den Camino duro geht, darf man in Trabadelo schon Feierabend machen. Wer unten herum geht, den will der Führer nach La Faba haben. Gut, dass ich das nicht verstanden habe. Der Aufstieg macht mir Spaß, das schnellere Laufen weckt weitere Kräfte. Ich überhole Trudy und Chris, die mich so gar nicht kennen. Rechts geht der Schwenk zur Herberge und ich schließe bei Ulla auf, die auch verwundert sagt: „Ich kenne Dich sonst nur langsam." „Ja, ich laufe immer so, wie mir gerade ist. Ich wasche heute ab", füge ich nahtlos hinzu, denn ich muss daran denken, was mir Irmtraud mit auf den Weg gegeben hat: „Häng dich mit dem Essenkochen immer irgendwo dran."
Die Herberge wird von Deutschen geführt und das bedeutet saubere Duschen. Diese Herberge hat noch etwas ganz Besonderes: genügend Haken in der Dusche! Auf jede Packliste für den Camino gehören zwei Saughaken. Diese Erleichterung für das Balancieren der Kleidungsstücke beim Duschen ist das Gewicht allemal wert.
Ich beziehe mein Bett direkt an der Tür, kurzer Weg nachts, aber auch viel Verkehr. Im Nachbarbett lässt sich Kirstin nieder – also Rucksack gefunden und auch hier angekommen. Die meisten rücken immer ganz nach hinten durch. Ansonsten ein ganz normaler 40-Personen-Schlafsaal mit netten Bundeswehrbetten. Die Besonderheit sind die Bügel zum Festmachen des oberen Bettes, die von den Untenschläfern als Aufstehhilfe missbraucht werden. In dieser Nacht ist kein Bett zusammengekracht.
Rundgang durch den Ort, vor der Bar treffe ich die Langstreckenpilger wieder. Im Lädchen wird das Frühstück und Picknick für morgen besorgt. Zurück in der Herberge brauche ich bei Ulla gar nicht nachfragen: „Wir haben schon eingekauft, wir kochen zu dritt." – Prima, so hatte ich mir das erhofft. Eine große Gruppe hat sich zusammengefunden, um auch gemeinsam zu kochen. Die haben früh angefangen und haben alles in Beschlag genommen. Kirstin sitzt auch in der Runde, richtig glücklich wirkt sie nicht. Ulla ist höflich, aber resolut, und erkämpft sich zwei Töpfe. Ich bekomme – ganz wie zu Hause – die Paprika, Zwiebeln etc. zugeschoben und darf diese in Streifen und Würfel schneiden. Während des Prozesses des Umrührens werde ich beurlaubt, gehe etwas Luft schnappen und da steht eine Dame völlig aufgelöst und in Tränen. „Jeder flennt auf dem Camino einmal." – Dieser Spruch von Kerkeling fällt mir ein. Ein bisschen kann ich helfen, dann bin ich nur ratlos, erkläre Ulla den Fall und die Spanierin – die dritte in unserem Bunde – rührt weiter in den Töpfen. Wir beschließen: Ein vierter Teller ist angebracht. Müßig zu sagen, dass das Essen gut ist, Ulla hatte die Federführung. Die Nacht beginnt früh, dafür mit der Eigenart, dass schon um 21:30 Uhr jemand so laut schnarcht, wie ich es in den vergangenen 27 Nächten noch nicht erlebt habe.