Die Nacht war so, wie es das laute Schnarchen am Abend schon hatte vermuten lassen. Als das Tütenrascheln losgeht, presse ich mich noch auf die Matratze. Um die Intimsphäre der Damen zu wahren, drehe ich mich zur Wand und ignoriere interessante Tattoos. Zu diesem Thema habe ich mich bei Marina am dritten Tag meiner Pilgerfahrt schlau gemacht, besser: ein Basiswissen erlangt. Da Ulla gestern noch ihre Planung für heute gemacht hatte, weiß auch ich, wo es heute hingehen könnte. Eigentlich schade, denn ich war so schön raus aus dem Thema und habe es genossen, mich einfach auf dem Weg nur weitertreiben zu lassen.
Es gibt zum Frühstück echten Filterkaffee – Luxus. Also trödle ich bei ein paar Tassen Kaffee herum, bis fast alle weg sind, und komme mit dem Hospitalero ins Klönen. Er bestätigt mir, ich bin auf dem richtigen Weg, erst um drei zu entscheiden, wohin es an dem Tag geht.
Der Weg ist schön, zuerst 400 Meter hoch durch sanfte Berge. Als ich nach friedlichen 1,5 Stunden in O Cebreiro über die Kuppe komme, empfängt mich lautes französisches Geschnatter. Zwei Reisebusse stehen da und die Busladungen mit einem meilenweit vernehmlichen Führer, der die hundert Touristen in die Besonderheiten des Ortes einweist. Ich flüchte nach rechts und genieße die Aussicht. Als ich zurückkomme, biegt Ulla über die Kuppe. „Es ist nur der Wind", sagt sie und reibt sich eine Träne aus dem Auge. Ich streichle ihr über den Arm und sage nur: „Ulla, da vorne rechts ist eine ganz tolle Aussicht."
So recht kann ich den schönen Ort nicht würdigen. Mir ist alles zu unruhig, zu viele Menschen, zu viel Tourismus. Ich kaufe ein paar Postkarten und ziehe langsam weiter. Wunderbare Landschaft, wunderbare Aussichten. Ich komme mit einem Franzosen ins Gespräch, der zu einer Gruppe von drei Ehepaaren gehört. Er und seine Frau müssen oft auf die anderen warten. Er sagt es nicht, aber ich spüre es: Er beneidet mich um meine Freiheit. Auf der Passhöhe San Roque dann das Denkmal. Ich knipse mit drei Fotoapparaten verschiedene andere Pilger. Das Angebot, auch mit meinem Apparat ein Bild von mir zu machen, schlage ich aus. Michelle hatte an sich darauf bestanden, dass ich das Fotografiert-Werden auf dem Rest des Weges auch ohne sie schaffe. Aber mir ist wirklich nicht danach und das bleibt auch die nächsten Tage weiter so. Der Spanierin aus Barcelona, mit der Ulla und ich gestern gekocht und gegessen haben, weiche ich nach einem kurzen Plaudern auch aus. Das Thema „Eigengewichtsreduzierung durch den Camino" liegt mir heute nicht.
Dann geht es gemütlich runter bis auf knapp 700 Meter. Kurz vor Triacastela liegt eine Amerikanerin samt Rucksack rücklings erschöpft auf dem Tisch eines Rastplatzes, eine Mitpilgerin hockt müde auf der Bank. Die Straße ist zwei Schritte weiter und so empfehle ich den beiden scherzhaft, ein Taxi beim Universum zu bestellen. „Du, der Weg geht vor dem Rastplatz herum", belehren mich die beiden. „Nein, hintenherum habe ich 20 Meter weniger Straße." So haben wir alle drei etwas Ablenkung und Spaß durch albernes Rumblödeln. „Sag den anderen Bescheid, dass wir gleich kommen, aber sag denen nicht, wie Du uns hier vorgefunden hast", bekomme ich noch mit auf den Weg, dann tänzle ich weiter, denn der Blick von zwei Damen im Rücken beflügelt. Nach der nächsten Ecke falle ich wieder in meinen Zotteltrott.
Ich bin bald im Ort, orte die anderen vier Amerikanerinnen, die zu der Truppe gehören, und überbringe die Nachricht. Hierbei kann ich auch endlich die andere Michelle kennen lernen, die aus Kalifornien. Ich studiere den Führer und entscheide hierzubleiben, entscheide mich für die Herberge gleich am Ortseingang oder besser gesagt, einen Kilometer vor dem Ortskern. Den laufe ich dann im Laufe des Nachmittags und Abends noch ein paarmal, aber in Turnschuhen zählen die Kilometer ja nicht.
Vor der Bar im Ort treffe ich Kirstin wieder. Den kritischen Blick von ihr interpretiere ich richtig: Ich sehe recht struppig aus. „Dort ist ein Friseur, wir können uns auch das Werkzeug nur leihen und ich schneide sie Dir." Diese Attacke auf meine Entscheidungsfreudigkeit ist zu plötzlich, ich drücke mich und Kirstin ist tolerant.
Wir finden die Langstreckenpilger zusammen mit einigen Kurzstreckenpilgern in einem Restaurant und haben ein gutes Abendessen. Ich habe das Pech, einer jungen Deutschen gegenüberzusitzen, die gerade erst losgegangen ist. Das Thema Blasen kann ich seit 600 Kilometern nicht mehr hören und alle medizinischen Fachbegriffe für ihr schmerzendes Knie – sie ist Physiotherapeutin und weiß gut Bescheid – helfen weder ihr, noch kann ich etwas damit anfangen. Oh, bin ich heute intolerant. Kirstin murmelt nur etwas und unterhält sich zur anderen Seite weiter.
Beim Gehen eine kurze Umarmung mit Jeanin und Colin, die vor meiner Herberge zelten. Dann muss ich mich sputen und im Dauerlauf renne ich zurück zu meiner Herberge.
Das Viererzimmer hat mich auf eine ruhige Nacht hoffen lassen. Die Liebe des Architekten für Schwingtüren und das Schnarchen eines Tschechen, der dann immer von seiner Tochter wach gerüttelt wird, sorgen dafür, dass ich nicht böse bin, als die Nacht vorbei ist.