Kein Tütenrascheln, kein Discolight um 6:00 Uhr und so genieße ich die morgendliche Ruhe, warte bis es hell ist, warte bis es um 8:00 Uhr Frühstück gibt. Gegen 9:00 Uhr breche ich auf, ich bin angekommen nur im Hier und Jetzt, habe keine Eile, keine innere Unruhe. Dafür habe ich die Sicherheit, dass immer alles klappt, immer alles gut ist – egal, wie es kommt. Ich habe die Sicherheit, dass meine Füße wissen, wie weit sie können, und mich zuverlässig dahin tragen. Und so genieße ich die abwechslungsreiche Landschaft, nehme mir Zeit für Fotos, für einen Plausch hier und einen Kaffee da. Ich finde immer eine Lücke in dem Pilgerstrom, der sich jetzt auf Santiago zuschiebt. Weit ist es ja nicht mehr. Ich passiere eine Tafel mit der Angabe „142 Kilometer", dann eine mit „116,5 Kilometer". Wunderschöne Kastanienbäume lassen die Frage nach der Entfernung zu Santiago in den Hintergrund treten. Es kommt ein Haus mit einem Getränkeautomaten in Sicht. Die Spanier hier wissen schon, wie man Pilger ausnimmt. Früher waren die Wegelagerer gefährlicher, jetzt kann man ja freiwillig genug Wasser durch die Gegend schleppen oder teures süßes Labsal aus dem Automaten ziehen.
Links taucht der erste Stein mit einer 100er-Marke auf. Vier Minuten später dann rechts der nächste 100er-Stein. Das ist wohl der echte!
Ich schließe folgerichtig, dass ich vor lauter In-die-Welt-Schauen weiter gelaufen bin, als ich heute wollte. Deshalb werde ich jetzt aber nicht zurückgehen, auch nicht den Führer aus dem Rucksack holen, denn die nächste Bar, der nächste Ort kommt bestimmt und es ändert nichts, ob ich weiß, wann und wie weit es noch ist.
Und so ist es denn auch, der Weg macht einen Bogen nach links und ich sehe die netten Gesichter von Colin und Jeanin, die gerade aufbrechen wollen. Ich ziehe meinen Hut, bekomme eine Umarmung, Uhrzeit und die Info, dass es bald eine – versiffte – Herberge gibt, dann noch eine, dass die beiden aber mal ins Trockene wollen und bis zur nächsten Stadt laufen werden, was noch ca. acht Kilometer sind. Also fällt meine Pause jetzt kürzer aus, ich bin ja heute schon 30 Kilometer unterwegs, bin spät losgegangen und werde, wenn ich auf ein Hotel Lust habe, noch ein bisschen unterwegs sein. Ich marschiere los und merke nach hundert Metern, dass ich vergessen habe, das Wasser nachzufüllen. Zurück – nein, das mache ich nicht freiwillig! Es sind ja nur noch acht Kilometer, das schaffe ich auch ohne Wasser. Nach einer Viertelstunde finde ich auf dem Weg eine äußerst nette Aufmunterung, die ich mir nicht hätte träumen lassen. „Gruß an Hermann" ist riesig quer über den Weg geschrieben. Nun ist es klar, den beiden möchte ich heute noch einmal begegnen und mich bedanken. An der ersten Herberge schieße ich vorbei, denn die soll ja versifft sein. An einer Straße sehe ich zwei Radfahrer an einem Rad basteln. Gut, dass ich keine Technik mit mir führe, die kaputtgehen kann. Dann kommt mir auf dem Holperweg ein Radfahrer mit seinem liebsten Stück schiebend hinterher. Ich trete höflich beiseite, denn das Gerappel brauche ich nicht. Er spricht mich in einem Mischmasch aus Englisch und Italienisch an. Als er mitbekommt, dass ich Deutscher bin, kommt in die Sprachsuppe noch ein Schuss deutscher Brocken. Er will nicht vorbei, er will reden, verkündet er mir. Mein Bedarf an Reden ist seit einigen Tagen sehr gering, heute besonders. Ein paar Minuten habe ich Geduld, zuzuhören und ihn reden zu lassen, dann schickt mir das Universum eine Wegbiegung mit zwei unterschiedlich langen Alternativen und ich wähle die längere und bin wieder allein, ohne unhöflich gewesen zu sein. Die zweite Herberge taucht linker Hand auf, viele Pilger sitzen gemütlich in einem Garten. Schaut doch gut aus, oder? Ich schwenke ein, bin aber so vorsichtig, einen der Pilger nach den Duschen zu fragen. „Die habe ich noch nicht gesehen", ist die knappe Antwort. Ich setze meinen Rucksack erst gar nicht ab, sondern ziehe weiter. Vor lauter Schreck habe ich auch hier nicht daran gedacht, mein Wasser aufzufüllen. Na ja – die paar Kilometer, es kommt bestimmt bald eine Bar. Da habe ich mich ausnahmsweise einmal geirrt. In einem Vorort von Portomarín steht vor einem Haus ein Tisch mit einer blauen Kühltasche und einer riesigen Kaffeekanne. Ich bin eigentlich dabei zu verdursten, dann ruft mir aber eine Pilgerin laut und mit den Armen fuchtelnd etwas zu, irgendwie schätzt sie mich auch noch als Deutschen richtig ein und spult ab: Wo ich denn übernachten wolle, alles sei voll, in Portomarín sei eine Fiesta. Also bleibe ich auf Abstand, meine Ruhe ist mir wichtiger als ein Getränk. Ich winke fröhlich, sage, dass ich das mit dem Übernachten dann klären werde, wenn ich da bin, und jetzt diese Frage als Problem noch nicht zulasse.
In Portomarín geht es erst über eine ellenlange Brücke, dann eine noch längere Treppe hoch in die Stadt. Ich spüre es richtig, wie zitterig ich auf den Beinen bin, doch Wasser gibt es nur da oben in der Stadt. Also keine Müdigkeit vortäuschen, stetig die Stufen erklimmen. Oben dann die Entscheidung – schon wieder eine an diesem Tag: mit dem Pfeil der Straße weiter hoch folgen oder rechts einbiegen und auf einen Supermarkt hoffen. Das Gefühl sagt rechts, das Gefühl hat recht! Ich bin versucht, im Laden schon die Flasche zu leeren, beherrsche mich und beweise Geduld an der Kasse.
Der Weg in das Stadtzentrum hinein ist jetzt einfach, ich treffe Jeanin und Colin, die verwundert sind, mich schon und überhaupt zu sehen. Nach der zweiten Umarmung an diesem Tag bekomme ich erklärt, wie die Hotellage hier ist, und als Dreingabe, wer hier ist und in welcher Bar sitzt. Auf dem Weg zum Hotel meiner Wahl komme ich an Martina, Martin und Jasmin vorbei. Die drei haben schon gegessen, versprechen aber, hier auf mich zu warten, bis ich geduscht habe. Martina macht mir noch das Kompliment, dass ich total fertig aussehe. Ich erhandle ein schönes Zimmer, von wegen alles voll. Es war schon richtig, das Problem, das mir die Dame aufdrängen wollte, nicht zuzulassen. Colin steht vor mir an der Rezeption. Ich bin versucht, die beiden zum Abendessen einzuladen, traue mich aber nicht. Die wollen bestimmt für sich sein, ist mein Gedanke. Darüber ärgere ich mich die nächsten drei Tage. Ich hätte doch fragen können. Die beiden sind doch groß und hätten so entschieden, wie es für sie richtig ist.
Eine halbe Stunde später habe ich geduscht und fühle mich wieder frisch. Zwei Liter Wasser sind spurlos von meinem Körper aufgesogen worden. Ich begebe mich um zwei Ecken zu der Bar mit den dreien, um mich der Prüfung unterziehen zu lassen, ob ich denn immer noch so fertig aussehe. „Du bist ja tatsächlich 38 Kilometer gelaufen", begrüßt mich Martina, „ich habe nachgesehen." Die Läden machen bald zu und ich will noch das Picknick für morgen kaufen, also verabschiede ich mich, freue mich aber über das „Du siehst ja schon wieder erstaunlich fit aus." Dann suche ich mir ein schönes Restaurant und sitze heute mal ganz allein am Tisch und genieße meine Freiheit. Das Glück ist perfekt, denn der Kellner spricht gut deutsch und ist richtig zuvorkommend.
Im Hotel angekommen, werfe ich einen Blick in die Bar und sehe dort Martin. Es wird ein langer Abend, besser eine lange Nacht. Das Thema „Gelassenheit" wird von uns umfassend bearbeitet. Und beide sind wir mit uns zufrieden, denn beide haben wir unendlich viel Gelassenheit dazugewonnen auf unserem Camino.