Habe ich schon mal erwähnt, dass der Weg, dass die Landschaft, dass die Menschen traumhaft sind? Das schönste Bild dieses Tages habe ich von Nina aus Finnland bekommen. Nina hat einen sagenhaften Blick für das Licht. Noch kenne ich Nina nicht, das kommt noch.
Ich treffe Karin wieder, die ich in Astorga zuletzt humpelnd gesehen habe. Sie hat Pause gemacht, ist Bus und Taxi gefahren. Aber die letzten hundert Kilometer lässt sie sich nicht nehmen, auch wenn sie die wegen ihres Knies nur in 10-Kilometer-Etappen machen kann. Wie gut ich es habe, mein Päckchen liegt woanders und ich möchte nicht tauschen. Ich habe mich an mein Päckchen gewöhnt und kann immer besser damit leben.
Ja, es geht mit riesigen Schritten auf Santiago zu und ich fange schon mit dem Rückblick an. Gestern in dem Gespräch mit Martin über die Gelassenheit hat das angefangen. Alles hat seine Zeit.
In Palas de Rei gibt es nicht so viele Herbergsplätze und ich habe mich auch an den Luxus des Alleinschlafens gewöhnt. Es sind tagsüber so viele Pilger unterwegs, dass ich den Ruheraum nachts auch brauche. Dann habe ich ja von Kirstin noch die Aufgabe „Friseur" unerledigt in meinem Gepäck. Heute schaffe ich es, um 19:30 Uhr einen Termin bei dem örtlichen Haarkünstler zu erlangen. Meine Spanischkenntnisse sind nicht gut genug, um die eigentlich erforderliche Nachbesserung einzufordern. Als ich am nächsten Tag Kirstin wieder treffe, kommentiert sie nur: „Na ja, wächst ja nach. Haben die hier in Spanien keine Ausbildung für Friseure?", hängt sie dann dran. Nun, ich laufe sowieso immer mit Hut, mich kennt jeder so, wie ich bin, und wer mich so, wie ich jetzt aussehe, nicht mag, den mag ich auch nicht.
Beim Essen treffe ich das Ehepaar aus La Faba, wo die Frau so spontan mit uns das Abendessen geteilt hat. Alles ist wieder in Butter. „Einmal flennt jeder", heißt es. Ich habe das nicht geschafft, bin wohl doch zu preußisch erzogen worden.
Auf dem Weg zum Hotel stolpere ich über Martina und Jasmin, die wieder die am hellsten erleuchtete Bar gefunden haben. Obwohl geraucht wird, setze ich mich dazu. Der Ruhetag in Astorga und der liebevoll direkt vor meine Füße gekippte Kaffee verbinden. Martina hatte ich neulich ganz väterlich geraten, mal einen Tag lang nicht in den Führer zu schauen. Sie berichtet mir später zu Hause, dass sie das mal ausprobiert hat, und für sie war es in Ordnung. Die Pilger in ihrem Umfeld aber hatten ein Problem damit, denn sie hatten sich so daran gewöhnt, selbst nicht lesen, geschweige denn denken zu müssen. Bei mir taucht die Frage auf, wie es kommt, dass ich einige Pilger immer wieder treffe, die jeden Tag 30 Kilometer gehen. Ich laufe mal 10, im Schnitt 20 bis 25 Kilometer – zugegeben, die 38-Kilometer-Etappe war ein Ausrutscher. Eine mathematische Frage, die ich trotz meines einschlägigen Studiums nicht lösen kann, aber wahrscheinlich ist das zu lange her. Für mich ist nur wichtig, gemerkt zu haben, dass es unwichtig ist, wie weit ich an einem Tag gehe. Ich weiß – obwohl der Hahn in Santo Domingo de la Calzada nicht gekräht hat – ich komme in Santiago an, und noch viel wichtiger: Ich komme bei mir an.