Im Hotel suche ich morgens erst einmal meine Wäsche. Die hier im Hotel sind auf Pilger eingestellt und haben im Hof einen Wäscheständer. Aber der ist heute Morgen fort. Ich werde in die Garage geleitet und da steht er mit meinen Sachen. Das ist Fürsorge! Beim Frühstück ein Schwung netter Franzosen, Ehepaare mit Gepäcktransport. Ich genieße das Frühstück, lasse mir Zeit. Ich habe überhaupt keine Lust, in Santiago anzukommen. Es wäre ehrlicher zu sagen, ich habe Angst davor: Angst, dass die schöne Zeit vorbei ist, Angst vor der großen Stadt, Angst vor dem Trubel, Angst, zu Hause nicht den richtigen Tritt zu bekommen und in alte Verhaltensmuster zu verfallen. Ich brauche noch Zeit, ich möchte den Weg noch weitergenießen und vor allem auch schon verarbeiten, bevor ich ihn in Santiago beende. Ich schaffe es heute, mir die Zeit zu nehmen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was der Weg mir gegeben hat. Ich weiche allen anderen Pilgern aus, schlage Einladungen aus, mich mit an den Tisch zu setzen, sitze lieber im ganz sanften Nieselregen draußen vor der Bar als drinnen bei den anderen. Höflichkeitshalber murmle ich etwas von Rauch und meinem Husten als Grund. Und so laufe ich langsam nur bis Mélide.
Ich laufe ein paarmal durch den Ort, kaufe Postkarten, habe aber keine Lust, diese zu schreiben. An der Herberge philosophiere ich mit einem Ungarn über das Wäschewaschen, werde von einem jungen Mädchen aus Köln – ich nenne sie in Zukunft immer nur „Strohhut" – nach dem Titel eines japanischen Zeichentrickfilmes gefragt. Keine Ahnung, aber mir fällt Gabi, meine Filmfreundin von zu Hause ein, der es derzeit so schlecht geht. Jeanin und Colin kommen vorbei, sie gehen weiter. Wir verabreden uns auf ein Abendessen, irgendwann, irgendwo. Ein paar Worte mit einem Ehepaar, das zum dritten Mal auf dem Weg ist, immer ein paar Etappen macht und sich wohl fühlt. Kirstin ist mit ihren beiden Begleiterinnen zum Abendessen weggegangen, als ich gerade mit „Strohhut" den Small Talk hatte, also gehe ich allein in die Stadt, treffe sie wieder in einer Bar. Sie haben schon die lokale Spezialität gegessen, ich bin zu faul, noch etwas zu suchen, und nehme mit dem Tiefkühlessen dieser Bar vorlieb. Gute Gesellschaft ist mir heute Abend wichtiger als gutes Essen.
Heute habe ich etwas ganz Wichtiges geschafft: Ich bin nur 15 Kilometer gelaufen und bin zufrieden, die Ankunft in Santiago elegant hinausgezögert zu haben. Ich schließe den Weg Stück für Stück ab und das in aller Ruhe.