Auch heute nur eine Mini-Etappe nach Arzúa/Centro. Kurz vor dem Ort treffe ich auf Kirstin. Sie hat sich von der Truppe der Langstreckenpilger getrennt und erzählt eine nette Geschichte: „Was, Du bist vor mir hier, Du läufst doch langsamer!", war der entrüstete Ausruf des einen Langstreckenpilgers mit über 2.500 Kilometern auf dem Tacho zu einem anderen Langstreckenpilger. Ich bin froh, dass ich das Thema schon nach meinen 750 Kilometern nicht mehr habe.
Die Herberge sieht nett aus und wir reihen uns in die Schlange ein, denn wir sind so früh dran, dass sie noch nicht aufhat. Es gibt feste Bettnummern und so ist es wirklich reiner Zufall, dass ich neben und unter zwei netten jungen Mädchen aus Deutschland zur Ruhe kommen werde. Die beiden kommen vom Camino Primitivo. Während ich denke, die Herberge ist ja recht klein, sind sie von der Menge der Pilger erschlagen. Wenig später weiß ich auch ihre Namen, schreibe sie gleich ins Büchlein, denn alles kann ich mir bestimmt nicht merken, den Namen von „Strohhut" habe ich ja auch vergessen. Die beiden heißen Linde und Ulli, machen Picknick an einem Tisch im dunklen Flur. Ich war schon draußen im Ort und empfehle ihnen die öffentlichen Bänke auf der Plaza. Sie greifen ihre Tüten und ziehen los. Ich suche mir ein Stückchen weiter eine ruhige Bar und zücke mein Büchlein, hole die Ansichtskarten heraus, die noch geschrieben werden wollen. An den Nachbartisch setzt sich eine junge Frau und beginnt ein Gespräch zu mir herüber: Ob sie denn Schwyzerdütsch mit mir reden dürfe. „Klar, rede, wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich nach", ist meine Antwort, verbunden mit der Empfehlung, doch an meinen Tisch zu wechseln. Das macht sie, ich räume meine Karten beiseite – das JETZT ist JETZT – Karten können warten, sie redet. Dann ist ihr Kommunikationsbedarf gesättigt, wir verabschieden uns nett. Schön, denke ich, heute hattest Du endlich mal Zeit – besser: genug innere Ruhe, um zuhören zu können.
Also die Postkarten wieder herausgeholt, doch dann kommt Ineke. Wir haben uns seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie hat einen guten Tipp für das Abendessen und wir verabreden uns für später. Ich sammle noch Kirstin ein, wir machen eine Einkaufsrunde durch die Stadt: Apfel und Nektarine in dem einen Laden, Brot, Schinken, Käse und Wasser im anderen. Dann zum Treffpunkt mit Ineke. Sie hat wirklich ein gutes Händchen, immer das beste Restaurant im Ort zu finden. Alles ist einfach perfekt. Beim Bezahlen dann stoßen drei Methoden, die Rechnung aufzuteilen, aufeinander und Kirstin langt aufgeregt über den Tisch, um den Beleg zu erhaschen. Ich verzichte auf die Durchsetzung meiner Methode und wir machen es so, wie Ineke es am nettesten findet. Sie bezahlt und sagt uns einfach, was sie von uns bekommt, und das ist äußerst günstig für uns. Dann Umarmung, denn man weiß ja nie, ob und wann man sich wieder trifft.
Kirstin möchte noch rauchen, also steuern wir die nächste Bar an. Wir kommen richtig tief ins Gespräch. Auf einmal falle ich Kirstin mitten in den Satz: „Wie spät ist es?" – Ich habe den Gedankenblitz, in dieser Nacht in einer Herberge mit pünktlichem Abschließen der Tür zu sein. Das Wettrennen, das Handy anzuschalten, um die Uhrzeit zu bekommen, gewinnt Kirstin: „Eine Minute vor 22:00 Uhr", sagt sie und steht schon. So schnell haben wir noch nie bezahlt und so schnell bin ich auf dem Camino auch noch nicht gerannt. Die Hand des Hospitalero liegt schon auf der Türklinke der Herberge und die Tür fällt direkt hinter uns ins Schloss. Gut, dass ich mein Bett schon am Nachmittag ordentlich vorbereitet habe, gut, dass ich seit Tagen immer alles auf die gleiche Stelle lege, gut, dass ich meine Minitaschenlampe heute Morgen im Brustbeutel vergessen habe, wo sie für nächtliche Gänge immer bereit ist. Während ich langsam zur Ruhe komme, denke ich: „Eigentlich schade, dass die Tür noch offen war – es wäre doch ein spannendes Abenteuer geworden, so ohne alles ein anderes Bett um diese Uhrzeit finden zu müssen." Aber es hätte bestimmt eine einfache Lösung gegeben.
Das Flackern von Kirstins Handydisplay sorgt für etwas Geisterstimmung. Sie schreibt noch ein paar SMS nach Hause, das ist ihr Tagebuch.