Den Tag gestern habe ich nur anhand der Eintragung von Lijgien in meinem Büchlein nachvollziehen können. Ich hatte ihre eMail-Adresse ergattert und das war mir wichtig, denn mit ihr wollte – und habe – ich Kontakt gehalten. Und es war wohl auch von den anderen vier Damen am Tisch zu merken, wie ergriffen ich war, meine eMail-Adresse in ihr Buch schreiben zu dürfen.
Der Tag heute fängt im Büchlein auch nur an mit „Heute bin ich fünf Kilometer vor Santiago angekommen." So sei mir ein Sprung ins JETZT, also das JETZT, in dem ich mein Büchlein mit der Erinnerung und den Fotos kombiniere, gestattet. Ich habe den Vorteil, mir zu Hause das Internet wieder zu erlauben, das Medium, das ich im Alltag morgens vor dem Duschen anschalte und abends nach dem Zähneputzen abschalte. Auf dem Camino war das für mich ein NoGo, ein Teil meiner Freiheit auf dem Camino. Im Jetzt tut es aber gut, sich per Facebook (habe ich erst kurz vor dem Camino auf Anraten meiner älteren Schwester aufgegriffen) und eMail weltweit auszutauschen. Über diverse Umwege habe ich nach einem Monat Jeanins richtige Schreibweise und ihre E-Mail-Adresse erhalten. Sie hat aufgrund meiner Mail lange Stunden am PC verbracht – und das nach einer Nachtschicht, um meinen Caminobericht zu lesen. Ich hoffe, ihr ein wenig von dem zurückgegeben zu haben, was sie mir auf dem Camino war: immer ein Lichtblick der Zufriedenheit, der Ausgeglichenheit – ein Lichtblick halt!
Weg gibt es an dem Tag auch. Ich trödle mit Tina daher, wir kommen an Anne vorbei, einer der Amerikanerinnen aus der „Michelle-Truppe". Anne kämpft tapfer mit dem Weg, meinen erneuten Vorschlag von wegen Rucksacktransport stößt bei ihr wieder auf Empörung. Es gibt dann ziemlichen Lärm, weil die Böschung mit Motorsensen gemäht wird. Ich werfe trotzdem einen Blick auf die arbeitenden Spanier und identifiziere die Stelle als die Wassertröge, in denen sich die mittelalterlichen Pilger gereinigt hatten, bevor sie in Santiago ankamen. Linde und Ulli kommen vorbei, ich konfrontiere sie mit meiner Theorie und biete ihnen Kekse an. Die Kekse lehnen sie dankend ab, sie haben gerade eine Pause einen Kilometer vom Weg entfernt gemacht, um Ruhe zu haben. Meine Einladung auf einen Kaffee rufe ich ihnen nach. Ich sitze in meine Regenjacke gehüllt im Lärm der Motorsensen. Für einen Außenstehenden vielleicht ein armes Häuflein, doch ich bin beim Abschluss meines Caminos, den letzten Schritten nach Santiago. Ein Entschluss ist klar: heute nicht!
Ich war bei den Becken allein, doch auf einmal sind Tina, Ulli und Linde wieder da. Wir sind an der Abzweigung zur letzten Bar vor dem Monte do Gozo. Die drei Damen (sollte ich „Mädchen" sagen?) laufen zögernd hin und her, da ist ein Wegweiser, aber die Meterangabe ist in spanischen Touristenmetern angegeben. Ich bin der Entscheider in diesem Augenblick. Nur in unwesentlich doppelt so weiter Entfernung wie auf der Angabe finden wir zu viert die Bar. Ich bin wieder bei der Entscheidung Schlappen ja oder nein – das Ergebnis ist nicht in meinem Büchlein verzeichnet. Ich gebe den beiden Mädel den Kaffee aus, während ich Tina ja nichts versprochen hatte, sie also selber bezahlen muss – sorry, Tina. Linde hat sich derweilen mein Büchlein geschnappt und schiebt es mir geheimnisvoll zu: „Pass auf, dass es nicht rausfällt." Ich bin neugierig und kurz danach einfach nur gerührt. Ein vierblättriges Kleeblatt vom Camino Primitivo liegt zwischen den Seiten. Kann man etwas Schöneres empfangen? Heute? Gestern? Immer?
Wir brechen auf, keiner weiß genau, wie weit wir noch gehen, wir haben nicht darüber gesprochen, ob bis Santiago oder ob wir noch einen Zwischenstopp in der Herberge Monte do Gozo einlegen.
Es ist nicht weit und wir sehen nicht nur das Denkmal, sondern auch einen Imbissstand und Kirstin. Sie will auch hierbleiben. Wir verteilen uns zwischen Denkmal und Imbissstand, irgendwann geht es weiter zur Herberge. Als Kirstin, Tina und ich dort ankommen, sind Linde und Ulli schon abgefertigt. Eine Gruppe Franzosen hat sich zwischen uns geschoben. Die beiden Mädel zögern, Kirstin greift ein, langt der netten Spanierin fast in die Bücher und regelt souverän die Sache. Die vier jungen Damen und ich bekommen zusammen ein Zimmer. Ich wage die Bemerkung: „Nett, dass ihr mich bei Euch akzeptiert." Diese wird mit einer kleinen Handbewegung beiseite gewischt. Dabei sind alle vier Damen zusammen nicht einmal doppelt so alt wie ich. Der Camino hat keine Altersgrenzen – es tut gut, über die Generationsgrenzen hinweg einfach als ICH gesehen zu werden. Mir tut es besonders gut.
Wir beziehen also zu fünft das Acht-Bett-Zimmer und hoffen, allein zu bleiben, leider vergeblich. Dann auch fünf Kilometer vor Santiago das übliche Programm: Dusche, Wäsche, Bett fertig machen. Den Rundgang durch den Ort kann man hier nicht wirklich so nennen: Es ist ein Containerdorf nur für Pilger. In der Bar treffe ich „Strohhut" mit dem Südafrikaner und dem Ungarn aus Mélinde.
Der Ungar wartet auf seine Waschmaschine und erzählt mit viel Gestik seine Empfindungen, besser: Problematiken, beim Finden der Entfernung nach Santiago: „I always had four sources: the stone on the left, the stone on the right, my guide and my list." Nun, ich kann nur knapp kontern: „Dafür hatte ich meinen großen Zeh" (wobei ich „Strohhut" flehentlich anblicke, denn mir fällt „Zeh" auf Englisch wirklich nicht ein). Der Südafrikaner besteht dann noch darauf, mir ein Bier auszugeben. An einem der letzten Tage hatte ich ja gerade ein Blasenpflaster für ihn parat, als er am Wegesrand hockte.
Wieder oben bei unserem Bungalow entschuldigen sich Linde und Ulli förmlich, nicht mit uns essen gehen zu wollen. Sie wollen den Camino mit gemeinsamem Kochen abschließen. Die beiden anderen Damen wollen sich sonnen, informieren sie mich noch. Von einem anderen Pilger, der hier ein paar Tage auf seinen Rückflug wartet, bekomme ich den Tipp für ein Restaurant im letzten Ort. Ich bin an dem Punkt, mich nur noch zu wundern, aber nicht laut, warum man hier so lange abhängt. Das verstärkt sich noch, als sich eine humpelnde Frau zu uns gesellt, die auch hier drei Tage abhängt bzw. nach Santiago mit dem Bus fährt. Bei dem Zustand von Fuß und Knie wäre ich einfach langsamer gelaufen – jeder geht seinen Camino.
Kirstin, Tina und ich machen uns also auf den Weg zurück – ein unerlaubter Weg? – Heute nicht. An der Bar vorbei, vor der ich mein vierblättriges Kleeblatt erhalten habe, links die Straße entlang. Wir gehen vorsichtshalber auf dem Mittelstreifen, denn ich muss zugeben, mir den Namen nicht so recht gemerkt zu haben. Die Namen der beiden Etablissements mit meinem Gedächtnis abzugleichen, gelingt mir nicht, aber wir entscheiden uns dann für die Markise links, rechts sieht es eher nach Puff aus. Wir landen einen Treffer, sind nur für das Dinner zu früh. Auf den letzten Etappen sind wir verwöhnt worden, in Englisch oder gar Deutsch durchgekommen, hier müssen wir wieder ein bisschen Spanisch herauskramen. Gut, mein Wörterbuch ist in Astorga geblieben, hätte ich es weitergetragen, wäre es jetzt auch in der Herberge. Irgendwann ist dann der Dinnerraum geöffnet. Als die Bedienung zu uns kommt, sind wir uns einig: Die Aufgabe des Abends ist, diese Dame zum Lächeln zu bringen. Wir bestellen auf Camino-üblichem spanisch-englischem Kauderwelsch und bekommen ein sehr gutes Menü. Kirstin sitzt – wie sollte es anders sein – strategisch günstig und verkündet: „Am Nachbartisch hat sie gelächelt." Die Diskussion beginnt, ob unsere selbst gestellte Aufgabe damit erfüllt ist.
Größere Probleme lassen wir an diesem Abend nicht zu.
Zurück in der Herberge berge ich meine Wäsche von der Leine und verabrede mit Linde und Ulli, dass sie morgen früh ganz laut mit den Tüten rascheln sollen, um mich zu wecken. Ich habe beschlossen, ganz früh in Santiago anzukommen.