Die Verabredung mit dem Tütenrascheln um sechs klappt schon einmal. Ich schleiche zur Dusche, dann ziehe ich meinen Rucksack auf den Gang und sammle im Zimmer leise meine Sachen zusammen. Und fort bin ich. Ich muss wieder daran denken, dass die Hähne in Santo Domingo de la Calzada nicht gekräht haben. Also werde ich jetzt hier im Dunkeln besonders vorsichtig sein. Bald bin ich in der Stadt. Gilt das schon, bin ich angekommen? Ich entscheide: Nein. Ziel ist die Kathedrale. Also ohne Kaffee, ohne Frühstück weiter, vorsichtig, aber eilig – irgendetwas treibt mich. Ich bin so gut wie allein auf der Straße. Andere Pilger sehe ich nicht, ab und an einen Spanier, der zur Arbeit geht oder von der Arbeit kommt. Langsam komme ich in die Altstadt von Santiago. Die Ruhe um mich herum macht auch mich ruhig. Die Aufregung, ja Angst vor der Ankunft ist weg. Ich sehe den Torbogen auf mich zukommen, erkenne einen Schatten, das muss ein Pilger sein, denn da ist ein Rucksack, ich erkenne Lijgien – Umarmung. Der Camino hat mal wieder gezeigt, was er leisten kann. Klar treffen wir uns direkt in dem Torbogen kurz vor dem Linksschwenk zur Kathedrale. Schließlich sind uns zusammen die Füße gewaschen worden, schließlich sind wir zusammen durch die Meseta marschiert. Lijgien ist auf dem Weg zum Bus nach Fisterra, hat aber noch Zeit, mit mir auf den Platz vor der Kathedrale zu kommen und ein Foto – Hermanns Ankunft im Dunkeln – zu machen. Nur fünf Menschen sind um diese Zeit auf der Plaza: Ulli und Linde, Lijgien und ich und doch tatsächlich ein Pilger, der zu weit weg ist, um ihn zu erkennen. Lijgien erklärt mir die Hotellage, sie hat diese Nacht ein fürchterliches gehabt. Dann bricht sie eilig auf, denn sie will den Bus nicht verpassen. Zum ersten Mal verabreden wir uns: morgen um 19:00 Uhr hier vor der Kathedrale.
Dann ist sie weg. Ich lasse noch eine Weile die Kathedrale, den Platz, das Gefühl angekommen zu sein, auf mich einwirken. Dann grüble ich darüber nach, in welche Richtung Lijgien gezeigt hat, als sie mir den Weg zu dem besseren Hotel beschrieben hat, das sie für morgen gebucht hat. Ich werfe im Geiste eine Münze und laufe los. Da ich in der Stadt Trubel erwarte, gehe ich ein bisschen stadtauswärts, laufe an einigen Hotels vorbei, bis mich eine Tür anspricht. Nach längerem Klingeln öffnet man mir. Als ich auf die Frage nach Reservierung überzeugt „Nein" antworte, kräuselt die nette Dame etwas die schöne Stirn. Dann geht es aber doch, zwei Nächte mache ich fest, meinen Rucksack darf ich hier deponieren und ab 15:00 Uhr mein Zimmer beziehen. Prima, wieder hat alles auf Anhieb geklappt. Jetzt kann ich unbelastet den Tag genießen. Zurück in die Stadt, in einem Coffeeshop sehe ich Linde und Ulli, frage höflich, ob ich mich dazusetzen darf – ja. Sie warten ganz lieb, bis auch ich mein Frühstück eingenommen habe, und freuen sich, als ich ihnen zeige, dass ihr Kleeblatt ein Zuhause in meinem Portemonnaie gefunden hat – und da ist es heute immer noch. Sie sind sehr nette und höfliche Mädchen!
Ich stelle fest, dass ich meinen Pilgerausweis im Rucksack gelassen habe und so keine Compostela bekommen werde. Also noch einmal zum Hotel.
Nun ist es draußen hell und das Pilgerbüro und die Kathedrale sind auch geöffnet. Ich laufe Kirstin, Tina und Ineke in die Arme. Gemeinsam gehen wir zum Pilgerbüro, um uns die Compostela abzuholen. Die Länge der Schlange geht noch, nur von unten ab der Eingangstür eine schöne Treppe hoch zum ersten Stock. Die beiden Mädel aus Münster gehen an der Schlange vorbei: „Wir deponieren hier nur unseren Rucksack", sagen sie, um Empörungen der anderen Pilger zuvorzukommen. Trudy, kurz gefolgt von Chris, schießt auf einmal die Treppe hoch, bei Ineke stoppt sie und erklärt ihr auf Holländisch, dass sie hier ihren Pilgerstab vergessen hat, den ihr Mann ihr geschnitzt hat. Dann bin auch ich dran und es ist ein aufregender Moment. „Von Saint Jean? Das ist ein weiter Weg!" Dann noch die berüchtigte Frage nach Bus und Taxi. „Alles zu Fuß, nur im Hotel habe ich manchmal den Lift genommen", antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bekomme ein Lächeln und meine Urkunde, für einen Euro auch noch eine Rolle, damit sie gut nach Hause kommt.
Gemeinsam besichtigen wir jetzt die Kathedrale von innen. Kirstin und ich gehen den Gang hinter der Statue vorbei. Ein Bediensteter der Kirche sitzt gegenüber auf einem Stuhl und redet ununterbrochen, vielleicht ja etwas Wichtiges, aber spanisch. In diesem Tempo verstehe ich nun gar nichts. Es ist in diesem Augenblick wie in einem Museum – schade. Kirstin und ich grübeln, war es das? Die Kraft, die von der Kreuzung der Kraftlinien ausgeht, haben wir beide nicht gespürt. Wir treffen den Schwung Amerikanerinnen rund um Michelle und Anne, gemeinsam studieren wir unsere Führer. Ja, das war die Statue, stellen Kirstin und ich fest. Große Enttäuschung, genauso wie am Cruz de Ferro. „Der Weg sind die Menschen", fällt mir ein und in diesem Punkt kann ich von Enttäuschung wahrlich nichts spüren.
Jetzt erst eine Stärkung in einem Straßencafé. Die Mittagsmesse ist um 12:00 Uhr, aber man soll besser eine Stunde früher da sein, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Ich gehe noch alleine durch die Stadt und laufe etwas Unruhe aus mir heraus, denn die fünf Kilometer waren meinem Körper heute eindeutig zu wenig. Ich komme kurz nach 11:00 Uhr in die Kirche und finde noch ein schönes Plätzchen recht weit vorne. Die Zeit bis 12:00 Uhr vergeht schnell, ein Schnelldurchgang durch all die schönen Erlebnisse auf meinem Camino. Die Kathedrale ist rappelvoll, jetzt habe ich auch ganz das Gefühl von Kirche, ich spüre die Energie aller Menschen, die hier sind, zufrieden, es geschafft zu haben. Ich muss an einen Taizé-Gottesdienst vor vielen Jahren im Kölner Dom denken. Da habe ich eine ähnliche Getragenheit gespürt wie heute hier. Obwohl die Messe in Spanisch ist, ist sie mir vertraut. Ich habe ja auf dem Weg doch einige Messen besucht. In vielen Landessprachen dann die Begrüßung der Pilger. Auch wenn der Weg das Ziel ist, ist es doch schön, hier angekommen zu sein und so herzlich willkommen geheißen zu werden, hier getragen zu sein von dem Spirit des Camino, der Kirche und den Menschen.
Beim Abendmahl denke ich als „Evangele" mal wieder nach, ob ich nicht doch einfach gehen soll, lasse es dann jedoch wie üblich. Ist eben ein katholisches Abendmahl. Kirstin und Ineke sehe ich nach vorne gehen.
Zum Abschluss kommt der Weihrauchkessel in Schwung. Sechs Männer ziehen am Seil und der Kessel schwingt durchs Querschiff. Toll, aber auch ein bisschen Theater mit tosendem Beifall am Ende.
Nach der Messe lassen wir Ineke den Vortritt, das Restaurant für den Abschiedslunch auszusuchen. Nach wenigen Schritten kommt mir Jasmin entgegen – Umarmung. Sie will um drei mit dem Bus nach Fisterra. „Kirstin auch", sage ich und wir eilen den beiden nach. Die drei kennen sich noch nicht, jetzt ja. Ineke hat wieder einen Treffer beim Restaurant und Kirstin lässt ihr auch bei der Rechnungsaufteilung freie Hand. Kirstin und Jasmin ziehen ab, so als ob sie sich zwei Jahre und nicht erst zwei Stunden kennen. Ineke verrät mir, dass sie während des Abendmahls noch einmal an der Statue vorbeigegangen sind, als nur ganz wenige Pilger da waren, keiner gedrängelt hat, und sie die Kraft gespürt haben. Gut, dass ich morgen noch in Santiago bin, das werde ich mir auch gönnen. Mit Ineke verabrede ich mich für 19:00 Uhr vor der Kathedrale, besser die gleiche Zeit wie mit Lijgien morgen, sonst bringe ich noch etwas durcheinander. Dann etwas Ruhe, etwas Schlaf nachholen im Hotel.
Um 17:00 Uhr mache ich mich wieder auf in die Stadt, etwas rumlaufen, Läden schauen und keine Andenken kaufen, denn ich will ja noch weiterlaufen nach Fisterra und Muxía. Bloß keine unnötige Last, das habe ich ja schließlich gelernt.
Zum Abschiedsdinner wählen wir dasselbe Restaurant wie am Mittag, sitzen wieder draußen in der lauen Septemberluft. Heute lerne ich die Tante von Nina aus Finnland kennen, Ulla aus Dänemark, Martina und Ineke runden die Tafel ab. Nach dem Dinner bitten wir den Kellner, doch ein Foto von uns allen zu machen. Mein Apparat will einfach nicht in seinen Händen blitzen, der Chef kommt und hat dasselbe Problem. Die Lösung naht vom Nachbartisch: Es blitzt und wir brauchen kein „Cheese", „Whisky" – die Fröhlichkeit in unseren Gesichtern ist echt. Das Aufteilen der Rechnung überlasse ich aus purer Gemeinheit Martina, denn die ist vom Fach. Ich hatte gehofft, sie würde protestieren und mir die Aufgabe zurückschieben.
Verabschiedung mit vielen Umarmungen. Ich ziehe mich in eine Straßenbar zurück, habe ja am Nachmittag geschlafen und will noch einmal runterkommen, alleine sein. Das bin ich dann auch für zehn Minuten. Dann fragt Martina höflich, ob ..., Nicken, und wir sind schon zu zweit. Tina und ihre Freundin aus Santiago stellen sich auch bald ein. So lernen wir, wie man in Santiago im Alltag lebt. Aus dem wunderschönen Heute wird ein Morgen. Für Fotos hatte ich an diesem Tag keine rechte Zeit. Bei mir kommt etwas Wehmut auf, doch die drei Damen fangen mich liebevoll auf. Kirstin – und es ist an der Zeit, mich zu berichtigen: nicht aus Hamburg, sondern aus „Fast- Hamburg" – hätte jetzt wohl gesagt: „Nicht nach hinten blicken, es sei denn für einen Sonnenaufgang."
Der Camino ist ein Sonnenaufgang für mich.