Der Tag beginnt mit einem überlauten Schnarcher meines Zimmergenossen. Ich schubse ihn an und stelle mich schlafend. Er ist nun auch wach, packt seine Sachen und ist fort. Mangels gemeinsamer Sprachkenntnisse haben wir kaum ein Wort gewechselt. So ziehe auch ich, wie in diesen Tagen schon üblich, im Dunkeln los. Auf dem Weg wieder Windräder, diesmal im Sonnenaufgang, ganz tolle Farben. Die Frühstücksbar ist 1,5 Stunden weiter in Hospital. Tagsüber dann wieder strahlender Sonnenschein. Nach 4,5 Stunden dann der Blick auf den Atlantik, der Blick auf das Städtchen Cée. Direkt in der Stadt gibt es einen Strand, nur eine Frau mit einem kleinen Kind ist zu sehen. Den Atlantik habe ich schon einmal erreicht. Die Schuhe lasse ich lieber an, die Erinnerung an die Blasen nach dem Schwimmbadbesuch ist noch wach. Also nur mit den Händen den Atlantik willkommen heißen. Dann eine ausgiebige Pause, bevor ich mich auf den Rest der Tagesetappe mache. Es liegen noch 3 1/4 Stunden bis Fisterra vor mir. Die Möglichkeit, hier noch einmal Zwischenstopp zu machen, schiebe ich beiseite, nein, ich will heute noch zum Leuchtturm, die Sonne ins Meer fallen sehen. In einem kleinen Ort kurz vor Cée finde ich dann auf der Straße das, woran ich seit 900 Kilometern bei jedem Souvenirstand vorbeigegangen bin: meine Jakobsmuschel. Es liegen mehrere auf dem Bürgersteig, sie sind wohl aus einem Garten, denn es sind Erde und Algen daran. Ich stecke die Schönste an meinen Rucksack und nun bin ich auch ein echter Pilger, wenn auch noch der Pilgerstab fehlt. Kurz überlege ich, ob ich noch mehr Muscheln als Präsente für daheim mitnehmen soll, entscheide aber, die lieber für die nächsten Pilger liegen zu lassen.
Es geht noch einmal weg vom Strand, bergauf zum Alto de San Roque, und was ich bergauf gegangen bin, darf ich auch wieder bergab gehen. Schließlich bin ich kurz vor Fisterra und biege auf den zwei Kilometer langen Sandstrand ein. Es ist ein seltsames Gefühl, mit hohen Stiefeln und Rucksack am Strand entlangzulaufen. Es sind nur ganz wenige Menschen hier, nur eine Pilgerin sehe ich am Strand Pause machen. Durch den Sand zu laufen, ist anstrengender, als außen herum den Weg zu gehen, aber wunderschön. Wieder verzichte ich darauf, die Schuhe auszuziehen, so tief sitzt die Erfahrung mit den Blasen. Ich will ja schließlich noch in den nächsten Tagen die eine Tagesetappe nach Muxía gehen. Am Ende des Strandes ist ein Restaurant und ich mache auf der Bank davor mein Picknick. Der Weg hinein nach Fisterra ist kürzer, als ich gedacht habe. Ich wähle das Hostal, auf das Lijgiens Beschreibung passen könnte und buche zwei Tage. Das übliche Programm nach Ankunft, dann mache ich mich auf zum Cabo Finisterre, zum Leuchtturm. Aus Angst, zu spät zu kommen, gehe ich die 45 Minuten recht schnell. Das Handy mit der Uhrzeit ist mal wieder im Rucksack. So habe ich oben am Leuchtturm viel Zeit, postiere mich in Sichtweite des 0,00-Kilometersteines und beobachte die Pilger beim Schießen der Erinnerungsfotos. Felicitas mit ihrer Freundin Jutta habe ich bisher nur einmal gesehen. Sie haben aus Überzeugung keinen Fotoapparat mit auf den Camino genommen. Also biete ich an, ein Foto zu machen und es ihnen zu schicken. Als ich nach der Mail-Adresse frage, bekomme ich einen Hinweis auf ihr Alter. Die Postadresse landet in meinem Büchlein mit dem Vermerk, dass ich bis zum 8. Dezember Zeit habe, denn so lange ist Felicitas auf Gran Canaria. Blick in die Zukunft: Am 28. Dezember bekomme ich Post aus Gran Canaria, meine Fotos sind angekommen und eine Einladung auf die Insel wird wiederholt.
Dann rückt die Sonne immer näher an das Meer und spiegelt sich erst silbern, dann golden im Meer.
Ich bin vorne auf dem Felsen, ein Spanier hat seine Isomatte dort ausgebreitet. „Du schläfst hier, das ist aber romantisch?", frage ich ihn. Die Antwort ist ernüchternd: Er hat kein Geld mehr für die Herberge. Als die Sonne im Meer versunken ist, drücke ich ihm beim Abschied einen mittelgroßen Schein in die Hand. Er umarmt mich und sagt schlicht: „You are a friend."
Der alte Brauch, seine Kleider am Kap zu verbrennen, wird von einigen Pilgern in aller Stille und von einem Schweizer Pilger mit einem riesigen Freudentanz und Freudengesang ausgeführt. Ich bin wohl zu sehr „Öko", um diesem Brauch zu frönen, und außerdem – ich will ja noch weiter nach Muxía.
Wieder 45 Minuten hinab in den Ort, wieder Zeit, Ruhe zu finden, den Tag, die Ankunft am Meer zu verarbeiten. Ich bin also tatsächlich einmal quer durch Spanien gelaufen, bis es nicht mehr weitergeht.
In meiner Aufregung, eventuell zu spät am Kap zu sein, hatte ich vergessen, ein Picknick mitzunehmen, also suche ich unten im Ort noch ein Restaurant. Bald sitze ich auch am Nachbartisch bei zwei Kanadiern und einer Deutschen. Die beiden Kanadier kennen mich vom letzten Hostal, peinlich, dass ich sie nicht erkannt habe. Als ich etwas über meine letzten Hostals murre, fallen sie ein und fügen hinzu, hier in Fisterre ein gutes gefunden zu haben. Ich nehme mir vor, morgen umzuziehen.