Es ist noch stockdunkel, als einige Spanier anfangen, sich in voller Lautstärke zu unterhalten. Ein Blick auf die Uhr besänftigt mich: schon 8:00 Uhr. Jemand hat gestern Abend noch Fenster und Fensterläden geschlossen, daher die schlechte Luft, daher die Finsternis. Das Schnarchkonzert war auch vom Feinsten, der Italiener neben mir hatte mich ja gewarnt. Also gehe ich duschen, frühstücken und überdenke meinen Tagesplan: 41 Kilometer sind Hetze, denn es ist nicht zehneinhalb Stunden lang hell, und Pausen möchte ich auch noch machen. Also wird der Tag bis Tricastela (nur 19 Kilometer) ruhig werden, meine üblichen Umwege nicht eingeschlossen. Ein Hospitalero ist auch noch nicht aufgetaucht, also werde ich mal in der Kirche, beim Bürgermeisteramt oder der Polizei nach einem Stempel fragen.
Der Morgen ist trocken, jedoch trübe. Den Stempel habe ich in der Kirche bekommen, der Turm ist offen, das Kirchenschiff geschlossen. Es kommt mir bekannt vor, war ich im Sommer doch schon in Sarria? An der Treppe, die ich heute nach unten gehe, merke ich es - ja! Was doch Jahreszeit und andere Richtung alles ausmachen, wie doch Erinnerungen verwischen. Durch die Stadt ist der Weg einfach, denn es sind im Bürgersteig Platten mit Muscheln eingelassen. Als ich am Ortsende unschlüssig bin, frage ich und kann mich zwischen Straße und Camino entscheiden. Ich wähle Camino. Der Sonnenaufgang erster Klasse fehlt mir heute noch. Die Frage, warum ich hier bin, ist eher rhetorisch: weil es mir guttut. Und so schlendere ich durch die spanische Landschaft, denke an Dinge, die nur mich etwas angehen, träume meine Träume, die ich noch gar nicht formulieren möchte, und schaue nach, welche Träume von gestern dabei sind, Wirklichkeit zu werden. Es fällt mir auf, dass ich lange keine Wegmarkierungen mehr gesehen habe, also gehe ich zum letzten Haus zurück, rufe hinein und werde auf den Weg geschickt, den ich nicht nehmen wollte. Bald weiß ich auch warum: Der Weg ist durchgängig aufgeweicht, schwere, nasse, klebrige Erde. Die Erde haftet sehr gut an den Schuhen und ich habe das Gefühl, bei jedem Schritt einen Zentner hochzuheben. Ein Blick in meine Spuren lassen Elefantenfüße vermuten. Es kommt ein Bach, der Weg wird wieder trockener und ich kann wählen: rechts, links, geradeaus den Berg hoch. Dieser Weg sieht am nettesten aus, Herz und Lunge sind in Ordnung und so stürme ich den Berg durch den Wald hoch - hier ist lange keiner mehr gegangen. Ich komme aus dem Wald auf eine kleine Straße und meine Nase stößt auf einen gelben Pfeil, nicht in meine Richtung, aber immerhin. Aus der Richtung des Pfeiles versuche ich zu schließen, wie ich weitergehen soll. Ich wähle den schönsten Weg. Nur in der Fleecejacke lasse ich mich von der Sonne und dem weiteren Berganstieg wärmen. Irgendwann fällt mir auf, dass alles um mich herum wunderschön ist und auch in mir, ich aber keine Ahnung habe, wo ich bin. Ohne Karte und Kompass, nur nach der Sonne bin ich eine Dreiviertelstunde gegangen. Jetzt stellt sich die Frage, weiter ins Abenteuer, also einfach weiterzugehen, oder auf Nummer sicher den Weg zurück zur letzten gesichteten Markierung zu laufen. Ich wähle schweren Herzens den sicheren Rückweg, finde die Markierung, laufe los, stutze: an einem Baum eine Taxinummer von Sarria. In meine Richtung ist die wohl kaum an den Baum genagelt worden. Also noch mal zurück und beim dritten Anlauf habe ich den Weg. Den Abstecher in die Hügellandschaft möchte ich nicht missen. Ich komme in den Ort, frage nach Tricastela und erfahre: Ich bin da. Nun erkenne ich es auch. Die Herberge, die mit den Schwingtüren, ist draußen am anderen Ende des Ortes. Der Pilgertag ist heute schon um 16:45 Uhr zu Ende. Doch bis zur nächsten Herberge sind es 16 Kilometer und sie soll auch noch geschlossen sein. Der Ort ist ganz anders, so mein Empfinden, als im Sommer. Nur wenige Bars und Restaurants sind geöffnet, die dann auch noch alle voll mit Rauchern. Dafür gibt es drei Supermärkte. Ich decke mich für morgen ein. Im Dunklen, im Regen sieht der Ort noch trostloser aus, aber sieht dann nicht jeder Ort trostlos aus? Wieder die Frage: „Was mache ich hier?", jetzt nicht rhetorisch: Ich besinne mich darauf, wie gut ich es habe - immer Speis und Trank, immer ein Bett, immer die Option auf ein behütetes Zuhause. Nicht alle Menschen auf der Welt haben das. Ich habe sogar Muße, auf dem Rasen der Herberge die Blumen zu sehen und mich von ihnen anlächeln zu lassen. Im Sommer war es richtig zu sagen: „Der Weg sind die Menschen." Und jetzt im Januar? Auf dem Caminho Português gab es wenige Begegnungen, doch ausschließlich schöne, nun auf dem Rückweg flüchtige - doch oft ein strahlendes Lächeln. Es sind die Menschen, doch noch mehr: Es sind die Kraftlinien, die pilgergerechte Infrastruktur und die den Pilgern so freundlich und zuvorkommend begegnenden Menschen, die hier leben. Das macht mein Gefühl aus, den Camino immer gehen zu wollen. Gehe ich nicht immer? Brauche ich das Besondere des Caminos, um meinen Weg zu gehen, um Frieden auf meinem Weg zu haben? Es ist entschieden leichter hier auf dem Camino! Jetzt, während ich den zweiten Camino und vor allem den Rückweg gehe, merke ich, was der Hinweg mir gegeben hat: oft im „Hier und Jetzt" zu sein.
In der Bar habe ich den Plan für morgen auf die Rückseite des Bono Albergue geschrieben und dann auch nachgerechnet: Nach Astorga sind es von Santiago aus 255 Kilometer, ich bin hier bei Kilometer 131, das macht als Differenz 124 Kilometer to go. Wenn die Herbergen, die Blasen, die Umwege, die Lust es mögen, dann sind das vier Tage. Ich lasse mich überraschen und freue mich auf das Abschiedsdinner im „Gaudi" in Astorga.
Zwar hat die Herberge keine Küche, aber eine gemütliche Ecke. Die beiden anderen Peregrinos habe ich beim Verlassen der Bar getroffen, als sie gerade hereinkamen. Sie ist aus Kanada. So sitze ich in meiner gemütlichen Ecke und lese „Peace". Beim Thema „Telefon" bin ich angekommen und ich merke, dass ich ganz ähnlich handele wie im Buch beschrieben. Seit einigen Tagen nervten mich Anrufe auf meinem Handy, die genau zweimal klingeln. Mittlerweile habe ich die Gelassenheit, beim Klingeln erst mal zu zählen, dann erst zu überlegen und zu tasten, ob das Teil an dem vorgesehenen Ort ist. Und wieder springen meine Gedanken. Ich merke, das Sprunghafte ist mir geblieben: Ich lese etwas - ein Stichwort lässt meine Gedanken direkt weiter schweifen.
Heute verfasse ich mal wieder eine SMS. Das ist eine schwierige Angelegenheit für mich, doch ich bin alleine und habe Bedarf, mich mit meinen Freunden zu Hause auszutauschen. Doch ich bin eigentlich nie alleine, denn ich habe Freunde, ich habe ein Zuhause und nicht zuletzt: Ich habe eine gesicherte Existenz. Wie will ich heute „Glücklich sein" sonst noch besser umschreiben? Vielleicht sind es auch einfach nur das Lächeln der Dame in dem Restaurant gerade und als Ersatz für viele Worte mein hochgestreckter Daumen für den guten Nachtisch?
Auf dem Flur dann noch ein kurzes Gespräch mit den beiden Pilgern, mit denen ich diese Nacht das Haus teilen werde. So ganz im Nebensatz kommt von der Kanadierin, dass sie zum vierten Mal in dieser Herberge ist. Ich wusste es ja - ich bin ein Anfänger in Sachen Pilgern.