Eine seltsame Nacht: Träume und Angst - mehr weiß ich nicht mehr, jetzt, da ich gegen 8:00 Uhr in der gemütlichen Ecke beim Frühstück sitze. Doch mein Gesicht heute Morgen im Spiegel hat mir gefallen. Keine Küche in der Herberge bedeutet keinen Kaffee, nun, das kenne ich ja.
Der Weg geht immer leicht bergan. An einer Kreuzung habe ich für mich richtig entschieden, der vorgeschriebene Weg ist es jedoch nicht. Also laufe ich weiter und freue mich an den traumhaften Ausblicken. Wieder steht eine Entscheidung an, ich müsste zu weit rechts sein, also sollte ich den Weg nach links nehmen. Nach kurzer Zeit höre ich das Rauschen eines Autos, bald ist auch die Straße da, ein paar hundert Meter zurück sehe ich Schilder, ich orientiere mich. Also geht es jetzt ein paar Kilometer an der Straße entlang, das kenne ich, das ist nichts Schlimmes, denn die Straße ist kaum befahren. Starker Wind von vorne, die Nase auf dem Weg, so spule ich die nächsten Kilometer ab. Nach drei Kilometern warnt ein Schild die Autofahrer vor Pilgern, also habe ich den vorgeschriebenen Weg wieder unter den Füßen. Von jedem entgegenkommenden Pilger ein Lächeln, mindestens ein „¡Buen Camino!", und von einem auch die Auskunft: „Bis O Cebreiro sind es noch acht Kilometer."
Genau um 12:00 Uhr bin ich auf der Bergkuppe vom Alto do Poio auf 1.335 Metern angelangt. Eine kleine Bar mit einem Kaminfeuer lockt zum Verweilen. Mein erster Kaffee heute schmeckt besonders gut. Um kurz nach 14:00 Uhr bin ich in O Cebreiro, die Kirche ist offen, einen prima Stempel gibt es hier. Und ich kaufe eine Postkarte für Katharina. Eine Kerze zünde ich an und stelle sie in die Mitte vor den Altar. Erinnerungen - ja – schöne lasse ich zu. Im Sommer fand ich hier keine Ruhe, weil der Touristenrummel übermächtig war. Jetzt kann ich die schlichte Kirche genießen, habe mich mit dem Ort ausgesöhnt - Frieden geschlossen, denn heute finde ich Ruhe und Frieden hier. Liegt es nur an mir – wahrscheinlich ja.
Ich lasse mir Zeit, es ist 15:00 Uhr, bevor ich wieder aufbreche, noch 13 Kilometer stehen an. Oder mache ich früher halt? Mal sehen, ich lasse mich überraschen. Irgendwie schaffe ich es, den Weg für Radfahrer zu erwischen, den kleinen Abstecher breche ich ab, die Richtung scheint nicht zu stimmen. Ein Auto hält an, ein Spanier redet auf mich ein, sagt mir, dass ich auf dem falschen Weg bin, aber ruhig weitergehen soll. Die Herberge in La Faba sei geschlossen, die Herberge, in die ich will, sei nicht gut, aber drei Kilometer vorher sei noch eine gute. Ich bin stolz auf mein passives Spanisch! Nach einer Weile viele Wegweiser, viel gelbe Schrift auf der Straße: Fahrräder, Fußgänger und der Pfeil für La Faba und O Cebreiro zeigt in eine Richtung. Doch aus O Cebreiro komme ich her und durch La Faba will ich durch? Also gehe ich erst mal die Straße weiter, eine gefühlte halbe Stunde immer schön bergab. Es kommt mir seltsam vor, ich scheine durch das falsche Tal abzusteigen. Also zurück: Herz und Kreislauf beweisen wieder, dass sie in Ordnung sind. Jetzt folge ich dem Weg nach La Faba, komme dort an, finde mich zurecht, an der Bar gehe ich besser vorbei - es könnte sonst etwas anderes als Kaffee oder Orangensaft werden. Der Supermarkt ist geschlossen, die Herberge, wie angekündigt, auch. Den Weg aus dem Ort hinaus finde ich, denn an dieser Ecke habe ich Ulla über die Schulter zugerufen: „Ich wasche ab!" - schöne Erinnerungen an den Camino Francés sind erlaubt.
Der Weg rückwärts ist anders, oft völlig unbekannt. Dann kommt eine Bank, ein Brunnen, eine Brücke, die die guten Gefühle wieder wecken. Ich komme wieder auf die Straße, wieder viel Schrift in Gelb auf der Straße für Radfahrer und Fußgänger. Ist das die Straße, auf der ich vorher umgekehrt bin, habe ich einen Riesenumweg gemacht? Egal - ich möchte keinen Schritt missen, denn ich gehe ja, um den Weg zu gehen, meinen Weg. Und der hat Umwege, Schleifen, Kringel.
Im nächsten Dorf ist niemand auf der Straße, also kehre ich in der Bar ein, belohne mich und frage nach der nächsten Herberge. Niemand spricht Englisch, Deutsch sowieso nicht. Ich filtere heraus, was mir der Autofahrer schon gesagt hat: In einem Kilometer eine gute Herberge und in drei Kilometer weiter, da wo ich hin will - die Handbewegung ist eindeutig abwertend. Ich finde die empfohlene Herberge. Zwei Spanierinnen kommen mit vielen Einzelteilen in die Herberge - das sieht nach Autopilgern aus. Ich mag den beiden Unrecht tun, doch meine Füße entscheiden: weiter. Es wird langsam dunkel, ich erreiche Vega de Valcarce, bin 166 Kilometer von Santiago bis hierher gelaufen. Ich frage mich zur Herberge durch, denn ich bin wieder mal zu faul, die Schilder zu interpretieren, kaufe im Supermarkt ein. In der Herberge kocht Anna, eine Brasilianerin. Sie weckt Stefan, ihren deutschen Mann, um meine Frage nach dem Hospitalero zu klären. Santiago, ein Spanier, ist auch noch da. Noch unter der Dusche werde ich von Stefan und Anna zum Abendessen eingeladen. Es ist genug für uns alle da. Gerade, als ich gehen und mich eine Weile zurückziehen will, kommt die Hospitalera. Sie kann meine fünfzig Euro nicht wechseln und so legt Stefan für mich aus. Er hat mit seiner Frau den beheizten Raum genommen, bietet auch mir großzügig dort ein Bett an. Ich ziehe aber ein nicht geheiztes Sechsbettzimmer für mich alleine vor. Die Herberge ist sehr einfach. Um die anderen beim Essen nicht zu stören, gelingt mir der Balanceakt, die Tür der Dusche mit dem Fuß zuzuhalten, während ich abschätze, wann der Duschstrahl warm ist. Beim Essen sprechen wir darüber, wie gut wir es haben, immer genug Essen auf dem Tisch zu haben. Anna und Stefan haben auch einige Erlebnisse mit professionellen Pilgern gemacht. Nach dem Essen ziehe ich mich in die Bar zurück, vor der Stefan mich gewarnt hat. Der Wirt ist ein Ausbund an Unfreundlichkeit, wohl deshalb ist die Bar nur von mir und einem Spanier besucht. Die andere Bar im Ort war voll, aber der Zigarettenqualm war schon vor dem Öffnen der Tür präsent. Die Planung für morgen kann beginnen: über Trabadelo, Pereje, Villafranca, Cacabelos, Camponaraya nach Ponferrada, das macht zusammen 33 Kilometer. Ganz verstehe ich die Wegbeschreibung nicht, denn irgendwo ist eine Differenz von drei Kilometern, für mich als Fußgänger ist das immerhin eine Dreiviertelstunde. Doch Astorga in drei Tagen - das wird wahrscheinlich. Auch wenn ich irgendwann einmal den ganzen Weg hin- und zurückgehen möchte, jetzt bin ich an dem Punkt, nach Hause zu wollen, an dem Punkt, bereit für mein zu Hause zu sein. Allein zu Hause auf dem Sofa, ein Buch als Alibi auf dem Bauch, kein Improvisieren in Dusche, Toilette und beim Frühstück - geregeltes Leben, sichere, saubere Umgebung, Ruhepause vom Abenteuer, Startbasis für das nächste Abenteuer. Es warten noch so viele Wege auf mich.
Was war heute der schönste Augenblick? Es war ein „Ulla-Tag": damals Kochen mit Ulla in La Faba, der Rastplatz, an dem wir eine Nektarine geteilt haben. Heute hat Frieden den Namen Ulla. Selbst das blaue Auge von Santiago, dem dritten Pilger heute Nacht, hat mich an Ulla erinnert. Er war mit dem Auge auf den Stockknauf geschlagen, als er auf dem Weg abrutschte.
Ich habe viele Fotos von toten Bäumen gemacht, sie faszinieren mich - Schönheit des Abgestorbenen. Heute nun lese ich im Buch „Peace" genau den Satz zum Thema: „Wann immer ich ein Auto starte, töte ich einen Baum." Ich habe es drastischer übersetzt, als es dort stand. Ist es nur Alibi, hier zu laufen? NEIN, ich bin zwar nach Porto geflogen und ich werde - wahrscheinlich - mit dem Bus zurückfahren. Doch zu Hause im Alltag bewege ich mein Auto eher selten, nicht zum Supermarkt, nicht zum Bäcker, nicht zum Getränkeshop. Ich habe meine Füße, mein Fahrrad, meinen Fahrradanhänger, und komme mir nicht mehr seltsam dabei vor, mit klappernden Flaschen durch den Ort zu radeln. Hier in Spanien genieße ich die Supermercados in jedem Dorf. Es sind „Tante-Emma-Lädchen", in denen der Laden bestimmt, was ich brauche. Können wir das Rad bei uns zurückdrehen und erreichen, dass jeder zu Fuß einkaufen gehen kann?
Als ich zurück in die Herberge komme, ist Stefan noch mit der Waschmaschine beschäftigt und so entwickelt sich ein Gespräch, Teile seiner Lebensgeschichte schwappen zu mir herüber. Und dann sind wir ganz unverhofft bei Kirche und Gott. Er ist viel in der Welt herumgekommen und so formuliert er, dass es ja nicht davon abhängen kann, durch welchen Zufall man hier oder dort, in diese oder jene Kultur, diese oder jene Religion hineingeboren ist, welcher Gott zuständig ist. Wir sind uns sofort einig: Es gibt nur einen - einen für alle und alles.
Ich begleiche noch meine Schulden bei ihm, gebe etwas für das Abendessen und etwas für Santiago. Ich solle es diesem doch selber geben, meint er. Doch er versteht, dass es sicher für Santiago würdevoller ist, wenn er das übernimmt, weil er mit ihm weiterlaufen wird. Es ist nach Mitternacht, als wir zu Bett gehen.