Das war gestern die teuerste Übernachtung und das teuerste Abendessen, dass wir bisher auf der Via hatten. Doch es hat sich gelohnt, wir sind nach der langen Etappe von gestern richtig gut ausgeruht. Schade, dass der Stempel für unserer Pilgerpass nicht zum Ambiente des Hauses passt. Michelle studiert wieder einmal den Führer für die nächsten Tage. Sie muss ihn bald auswendig können. Und so setze ich mich alleine in die Lobby und schaue den Fischen im Aquarium zu. Auch ich werfe einen Blick auf den Plan. Neun Tage noch, davon drei mit Etappen von über dreißig Kilometern, ja zwei mit fast vierzig Kilometern. Aber heute ist heute und heute lassen wir uns Zeit. Bei der Mairie gibt es einen schönen Stempel. Wir folgen der Beschreibung im Führer und nicht dem markierten Weg. Das heißt wieder einmal Straße, aber die ist zum Glück wenig befahren. Punkt 12:00 Uhr sitzen wir auf einer Bank mit Blick auf eine Kirche und machen Picknick mit Käse und Brot. Wir sind erst neun Kilometer gegangen. Das wird heute ein Ruhetag. In einem kleinen Dorf machen wir bei der Waschhalle aus früheren Zeiten noch eine Pause auf den steinernen Mauern. Die letzten fünf Kilometer an der Straße ziehen sich, wie es die letzten Kilometer an jedem Tag tun, egal, wie lang die Etappe ist. In Dampierre finden wir schnell die im Führer beschriebene Gîte. Eine ältere Dame öffnet uns und überschüttet uns mit einem rasend schnellen Schwall französischer Worte. Ich verstehe nur, dass wir einen Moment warten sollen, bis jemand kommt. Also setzen wir uns auf die Steinbank vor dem Haus. Wie lange mag der Moment wohl sein, den wir warten sollen? Als ich meine Wanderschuhe ausgezogen habe und die Crocs an den Füßen habe, kommt ein netter älterer Herr mit dem Auto angefahren und lässt uns ins Nachbarhaus ein. Eine große, komplett eingerichtete Küche und ein Esszimmer lassen uns sofort die Entscheidung treffen, heute das Abendessen selber zuzubereiten. Während die Zimmer für uns gerichtet werden, bekommen wir im Garten einen Orangensaft kredenzt. Michelle ist wieder bei ihrer Lieblingsbeschäftigung und plant die nächsten Tage. Derweilen durchforste ich die Küche und werfe die Kaffeemaschine an. Noch sind wir die einzigen Gäste in der Gîte. Die Frage, warum wir pilgern, ist heute leicht zu beantworten: um genau das zu erleben, was wir heute hier und jetzt erleben dürfen. Unser Gastgeber spricht sogar ein paar Brocken Deutsch, sodass es zusammen mit meinen Brocken Französisch für ein kleines Gespräch ausreicht.
Heute hatte ich genug Ruhe, um ein paar Blumen am Wegesrand zu fotografieren. Auch hier im Garten der Gîte findet eine weiße Rose einen Platz auf dem Chip meiner Kamera. Mit einem weiteren Orangensaft setze ich mich in den Garten und beaufsichtige die Wäsche beim Trocknen – Ruhetag.
Der Schrittzähler steht auf 24.771 Schritten und die sind wir in aller Ruhe gegangen. Weitere 1.393 Schritte muten wir unseren Füßen zu, um zum Supermarkt und Bäcker und zurück zu unserer Unterkunft zu gelangen. Wir haben Vorräte für mindestens eine Woche eingekauft. Man soll nie hungrig einkaufen gehen. Wer soll das alles essen und vor allem, wer soll morgen die Reste tragen? Doch darum können wir uns morgen kümmern, jetzt nutzen wir die letzten Sonnenstrahlen auf der Terrasse und Michelle streichelt alle verfügbaren Katzen. Gerade als wir den Backofen inspizieren, kommt unser Gastgeber. Er empfiehlt uns die Mikrowelle. Er bringt auch gleich den Nachtisch mit, eine große Schale Weintrauben. Es ist noch warm genug, um draußen im Garten zu Abend zu essen.